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Unter Mandarinen hatte sich angeblich die Schlange versteckt.

© Mike Wolff

Thüringen: Schlangenalarm im Supermarkt

Ein mysteriöser Reptilienbiss versetzt eine thüringische Gemeinde in Aufregung. Angeblich kam die Schlange aus einer Mandarinenkiste.

Von Sandra Dassler

Es ist die Horrorvorstellung schlechthin: Eine Frau bückt sich im Supermarkt über eine Mandarinenkiste, da schießt eine Giftschlange heraus und beißt sie in den Bauch.

Genau das soll einer Rentnerin in der thüringischen Gemeinde Tiefenort an der Werra zugestoßen sein. Der Markt wurde mehrfach durchsucht, geschlossen, schließlich ausgeräumt und mehrere Tage lang mit Gas gefüllt. Doch die Schlange wurde bis heute nicht gefunden. Das Einzige, was sich durch Tiefenort und das ganze Werratal schlängelt, sind Angst und Zweifel und manchmal ein paar Journalisten. Denn die Geschichte geistert seit Wochen durch die Medien – durchaus mit widersprüchlichen Aussagen der gebissenen Frau und ihrer beiden erwachsenen Söhne.

So hatte die Rentnerin behauptet, sie habe an jenem Freitag, dem 23. Februar, die Schlange gar nicht bemerkt, sondern geglaubt, sie hätte sich an der aus Spanien stammenden Mandarinenkiste verletzt. Erst als sie die seltsame Wunde gesehen und Schmerzen bekommen habe, sei sie am Montag zum Arzt gegangen.

„Später wurde dann erzählt, sie habe wegen des Schmerzes aufgeschrien“, sagt der Besitzer des Supermarkts, Thorsten Hellwig: „Das hat hier aber niemand gehört, die Frau hat, ohne etwas zu erwähnen, bezahlt und ist gegangen.“ Erst in der darauffolgenden Woche sei einer der Söhne gekommen und habe behauptet, dass seine Mutter im Supermarkt gebissen worden sei. „Wir haben das sehr ernst genommen und sofort alles durchsucht, aber keine Schlange gefunden“, sagt Hellwig.

Inzwischen berichteten die Medien deutschlandweit über den Schlangenbiss von Tiefenort – die meisten ernsthaft, einige wenige eher etwas spöttisch, obwohl Fotos von den angeblichen Bisswunden präsentiert wurden und das Blutbild angeblich klar auf einen Schlangenbiss hinwies.

Schlangenurin

Manche bezweifelten nicht, dass die Frau gebissen wurde, wohl aber, dass es im Markt geschah. Doch das änderte sich schlagartig, als man unter einem Supermarktregal zwar nicht die Schlange selbst, aber angeblich ihren Urin fand. Plötzlich schien alles klar: Es müsse sich um eine europäische Viper handeln, wurden Experten zitiert, eine Nordiberische Kreuzotter vielleicht oder eine Aspis-Viper, die auch im südlichen Schwarzwald vorkommt.

Die Rentnerin habe noch Glück im Unglück gehabt, hieß es weiter: Sie sei mit einem „trockenen Abwehrbiss“ davongekommen, bei dem nur wenig Gift in den Körper gelange, ansonsten hätte sie wohl einen lebensbedrohlichen Schock erlitten. Außerdem habe ihr der Pullover und das so oft geschmähte Bauchfett geholfen. „Gefährlicher wäre ein Biss in den Finger gewesen, weil der viel stärker durchblutet ist als der Bauch“, sagt Uwe Ringelhan von der zuständigen Reptilien- Auffangstation.

Obwohl auch der spanische Lieferant ausschloss, dass eine Schlange in die Kiste mit den handverlesenen Mandarinen geraten sein könnte, wurde der Markt Anfang März geschlossen. „Es war Gefahr im Verzug“, begründet der Tiefenorter Bürgermeister Ralf Rubisch sein Vorgehen. „Wir mussten handeln.“ Der Marktbesitzer, der den entstandenen Schaden auf mehr als 100 000 Euro schätzt, ist immer noch fassungslos: „Für so etwas gibt es keine Versicherung.“

Warum auch? „Das Risiko, im Supermarkt von einer Giftschlange gebissen zu werden, ist ebenso hoch wie die Chance auf einen Sechser im Lotto“, sagt Uwe Ringelhan. Obst würde meist schon am Ort der Ernte gewaschen, begast oder andersweitig behandelt, um Tiere abzutöten.

Jedenfalls kommt die Geschichte vielen etwas skurril vor, so auch Schlangenpfleger Thomas Warkentin vom Berliner Zoo-Aquarium: „Dass so verhältnismäßig kleine Schlangen Menschen durch die Kleidung in den Bauch beißen, ist ungewöhnlich.“

Ohne Ende

Auch dass es die Rentnerin mehrere Tage lang ohne ärztliche Versorgung ausgehalten hat, mache stutzig. In Tiefenort kursieren Gerüchte, wonach die Frau, die sich nicht mehr in den Medien äußern möchte, vielleicht anderswo als im Supermarkt gebissen wurde. Die zuständige Kriminalpolizei in Suhl ermittelt jedenfalls wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen unbekannt und nicht gegen den Marktbesitzer.

Für den ist das ein schwacher Trost. „Das Dumme ist, dass nicht die Frau beweisen musste, dass sie im Supermarkt gebissen wurde, sondern ich, dass keine Schlange hier ist“, sagt Thorsten Hellwig: „Wenn so etwas rechtens ist, könnte ich demnächst behaupten, mich hätte eine Schlange im KaDeWe angegriffen. Müsste das dann auch geschlossen werden?“

Ganz unberechtigt ist seine Frage nicht: Inzwischen hat sich nämlich herausgestellt, dass der angeblich im Markt entdeckte Schlangenurin in Wahrheit nur Staub war. Und auch die Aussage, wonach an der Charité das Blut der Frau untersucht wurde, stimmt nicht. Auf Anfrage des Tagesspiegels teilte die Pressestelle mit, dass man dies „nach intensiven Recherchen“ nicht bestätigen könne.

Die Geschichte ist offenbar nicht zu Ende.

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