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Panorama: Türkische Drei-Kind-Politik

Regierungschef Erdogan ermuntert seine Landsleute zu mehr Nachwuchs und gesundem Sexualleben.

Sex macht glücklich, Streicheln ist schön, und ein langes Vorspiel tut beiden Partnern gut: Botschaften, die man nicht unbedingt von der muslimisch-konservativen Regierung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan erwarten würde. Und doch befasst sich ein Ratgeber für „Ehe und Gesundheit“ des türkischen Familienministeriums auf 33 Seiten jetzt mit den Wonnen und Problemen des ehelichen Sexuallebens. Die Anleitung ist Teil eines offeneren Umgangs mit dem Thema in der Türkei. Eine bekannte islamische Intellektuelle meint sogar, Sex sei ein Weg zu Gott.

Mindestens drei Kinder pro Familie will Erdogan bei seinen Landsleuten sehen, um die Türkei vor einer Überalterung wie in den westeuropäischen Staaten zu bewahren. Für Ehepaare hat sein Familienministerium deshalb nun die Sex-Anleitung herausgegeben. Sie bildet ein Kapitel im Ratgeber „Ehe und Gesundheit“, der sich auch mit häuslicher Gewalt und Familienplanung beschäftigt. Im Sex-Kapitel werden die Vorteile eines gesunden Sexuallebens gepriesen und Ausschweifungen wie Sex unter Alkoholeinfluss behandelt.

Nicht überall findet die Broschüre allerdings begeisterte Leser. Jetzt wolle die seit mehr als zehn Jahren amtierende Regierung den Türken auch noch vorschreiben, wie es im Bett zuzugehen habe, spottete das regierungskritische Internetportal Oda TV. „Offizieller Sex“, hieß es in der Zeitung „Hürriyet“ kürzlich.

Dabei gibt es Hinweise darauf, dass ein wenig Aufklärung hilfreich sein könnte. Die Studie eines Präservativ-Herstellers kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der jungen Türken und Türkinnen ihre Sex- Kenntnisse aus dem Internet beziehen. Nur zwölf Prozent nannten die Schulen als Wissensquelle. Das hat Folgen. Einer anderen Umfrage zufolge betrachten rund 20 Prozent der Frauen und Männer der Türkei den Coitus interruptus nach wie vor als wirksame Verhütungsmethode.

In „Ehe und Familie“ geht es vor allem darum, im Ehebett den Weg für gegenseitigen Respekt, Offenheit und Erfüllung zu öffnen. Die Ehepartner sollten über ihre jeweiligen sexuellen Wünsche reden und aufeinander eingehen. Regelmäßig waschen sollten sich die Eheleute auch, denn Körpergeruch wirke abstoßend. An die Männer ergeht die Warnung, nicht ohne Rücksicht auf die Gattin von null auf hundert loszusprinten: „Ein Mann ist innerhalb von zwei bis drei Minuten für sexuelle Beziehungen bereit“, heißt es im spröden Bürokraten-Türkisch der Broschüre. „Für Frauen dauert diese Phase zehnmal länger.“

Gemeinsam genießen, heißt die Devise: „Der Orgasmus ist der Höhepunkt der Lust, ein körperliches und spirituelles Gefühl der Entladung sexueller Spannung.“ Manche Männer seien allerdings nur an ihrem eigenen Vergnügen interessiert.

Das kritisieren auch islamische Kreise in der Türkei. Sibel Üresin, eine islamische Autorin im Kopftuch, die häufig mit provokativen Thesen für Wirbel sorgt, kritisierte vor einiger Zeit, viele muslimisch-konservative Frauen sähen ihre Rolle im Bett nur darin, ihren Männern zu Diensten zu sein. Viele wüssten nicht einmal, was ein Orgasmus sei. „Sexualität ist Gottesdienst“, sagte Üresin vor einigen Monaten in einem Interview. Nicht alle teilen indes diese Ansichten: Der Theologe Ali Riza Demircan, Autor des Buches „Sexualleben nach dem Islam“, wurde wegen ähnlicher Äußerungen von anderen Islam-Experten angefeindet.

Ohnehin hat die Debatte islamischer Zirkel über Sexualität und Geschlechterrollen enge Grenzen, die aus westlicher Sicht befremdlich wirken. So verurteilen selbst relativ tolerante Gelehrte wie Demircan die Homosexualität. Und die islamische Intellektuelle Üresin meldete sich vor wenigen Wochen mit der Aussage zu Wort, erfolgreiche Frauen seien selber schuld, wenn sie verprügelt würden, denn mit Wissen und Wohlstand streckten sie den Männern „die Zunge raus“.

Wohl auch wegen solcher Rechtfertigungen der häuslichen Gewalt betont das Familienministerium in seiner Anleitung fürs eheliche Glück nachdrücklich die Gemeinsamkeit und Gleichberechtigung der Ehepartner. Ministerin Fatma Sahin muss sich tagtäglich mit der Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden nach einer Zählung des Internetportals Bianet 50 Frauen von ihren Männern getötet, ebenso viele wurden vergewaltigt.

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