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Panorama: Unter aller Augen

Eine 14-Jährige wurde in der Fußgängerzone der Stadt Heide vergewaltigt – und Passanten schauten zu

Wie groß ist die Ignoranz von Passanten, die nichts gegen die Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens in einer Fußgängerzone unternehmen? Diese Frage beschäftigt auch fünf Tage nach der Straftat die Ermittlungsbehörden und die Öffentlichkeit in der schleswig-holsteinischen Stadt Heide.

Der Vorgang, auf den die Polizei am Montag aufmerksam machte, um die Öffentlichkeit wachzurütteln, klingt unfassbar. Am Himmelfahrtstag ist unter den Augen achtloser Passanten eine 14-Jährige in der Fußgängerzone von Heide vergewaltigt worden. Das Opfer war am Donnerstag gegen 21.30 Uhr – zu diesem Zeitpunkt war es noch hell – mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause gewesen, als sich der betrunkene 19 Jahre alte Täter an ihr vergriff. Obwohl das Opfer die Zeugen direkt um Hilfe bat, tat zunächst niemand etwas. „Wenn diese Menschen nur ein wenig Courage gehabt hätten, dann hätten sie wenigstens die Polizei informiert“, erklärte Kriminalkommissar Reinhold Laaser am Montag in Heide.

Strafe wegen unterlassener Hilfe?

„Das Mädchen hat eine Frau gebeten, ihr zu helfen. Diese hat sie offensichtlich auch verstanden, ging aber weiter“, schildert Laaser die Szene. Zudem hätten nach Angaben des Opfers mindestens zwei Männer von einem Balkon aus zugeschaut, wie der betrunkene 19-jährige Täter sein Opfer vom Rad zerrte und sich an ihr verging.

„Helft mir, tut was!“, habe die 14-Jährige geschrien, berichtet der Kripobeamte über die Verzweiflung des Mädchens. Weder die Frau noch die Männer konnten von der Polizei bisher ausfindig gemacht werden. Auch eine weitere Gruppe von vier Passanten, darunter drei Frauen, hätten ihren Hilferufen keinerlei Beachtung geschenkt. Zudem bat das geschockte Mädchen nach Angaben der Polizei die Gruppe um Hilfe: „Helft mir, ich werde belästigt!“.

Und dies, obwohl der Täter mit seinem Opfer auf der Straße lag, seine Hand in ihre Jeans steckte und er sexuelle Handlungen an ihr vornahm. Erst als das Opfer sich befreien konnte und der Vater des Mädchens eintraf, benachrichtigte jemand aus der Gruppe heraus die Polizei. Die Beamten trafen kurz darauf ein und nahmen den Täter fest. „Normalerweise hätten die Zeugen erkennen müssen, dass dies kein Spiel oder eine Balgerei ist“, kritisiert der erfahrene Kriminalbeamte. Können die untätigen Passanten zur Rechenschaft gezogen werden? Für vier Zeugen könnte die mangelnde Zivilcourage rechtliche Folgen haben. „Wir prüfen in einem beschleunigten Verfahren, ob sich jemand der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht hat“, sagt Laaser. Die Höchststrafe bei diesem Tatbestand liegt bei einem Jahr Haft. Es sei aber schwierig, jemandem nachzuweisen, dass er eine Notlage erkannt, aber trotzdem nichts unternommen habe, sagte Laaser.

Nach dem jetzigen Ermittlungsstand gehen die Heider Beamten davon aus, dass die Vergewaltigung zu verhindern gewesen wären, wenn bereits die erste angesprochene Passantin die Polizei informiert hätte. „Vielleicht wussten die Passanten nicht, was sie tun sollten, aber für einen kurzen Anruf braucht man keinen Mut.“ Die Polizei verlange nicht, dass sich jemand selbst in Gefahr bringe, um einem anderen zu helfen. „Sie erwartet jedoch, dass sie in solchen oder ähnlichen Fällen zumindest über Notruf 110 in Kenntnis gesetzt wird.“

„Eine Sauerei" nennt der zuständige Oberstaatsanwalt Wolfgang Zepter aus Itzehoe das Verhalten der Augenzeugen. Dass sie ein 14-jähriges Mädchen in solch einer Situation allein ließen und nicht eingegriffen hätten, sei nicht nachvollziehbar. Gleichzeitig befürchtet der Jurist, dass Wegschauen ein allgegenwärtiger Trend sei.

Der Täter ist auf freiem Fuß

Ins selbe Horn stößt Karl-Heinz Frehe, Leiter der Außenstelle Dithmarschen des Weißen Rings. Die Organisation betreut nicht nur Verbrechensopfer, sondern kümmert sich auch intensiv um Vorbeugung. „All jene, die den Überfall beobachtet und nichts unternommen haben, sind jetzt mitschuldig an der seelischen Not des Opfers“, sagt Frehe. Jeder sollte darüber nachdenken, dass er in seiner eigenen Familie oder im Freundeskreis Mädchen im selben Alter kennt. „Wie könnte man ihnen noch in die Augen schauen, wenn sie betroffen wären und man nicht eingeschritten wäre?“ Besonders irritiert Frehe, dass alle, die jetzt die Augen verschlossen hätten, offensichtlich die Aufklärungsarbeit der Polizei ignoriert haben. Letztes Jahr seien solche Vorfälle in der Nachbarschaftswoche der Heider Polizei unter dem Motto: „Weggeschaut — ignoriert — gekniffen“ zum Thema gemacht worden. „Jetzt erleben wir die Schuld eines Mannes und die Mitschuld aller Zuschauer vor unserer eigenen Haustür.“

Was passiert mit dem Täter? Er war mit 2,5 Promille so betrunken, dass er am Tatort blieb und sich festnehmen ließ. Er ist bisher nicht wegen Sexualstraftaten in Erscheinung getreten. Der Mann ist wieder auf freiem Fuß.

Es bestehe keine Fluchtgefahr, hieß es. Es bestehe auch keine Wiederholungsgefahr. Wegen seiner Trunkenheit könnte es sein, dass er für seine Tat nicht schuldfähig ist.

Martin Sterr[Heide]

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