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Panorama: Unter uns

Hatice aus Süddeutschland kommt nach Berlin. Sie erwartet Diebe und Türkei-Flair. Ein Reisebericht

Stuttgart sechs Uhr morgens. Gleich startet mein Flieger. Ich muss an meine Freundin Selma denken, die sagte „Ausgerechnet Berlin, bist du sicher?“ und meine Familie, wie sie fragen: „Ein Praktikum ist ja schön und gut, aber muss es Berlin sein?“ Bei mir zu Hause sind sich die Leute sicher: Berlin ist die gefährlichste Stadt Deutschlands.

Ich bin 28 Jahre alt und komme aus Karlsruhe. Für zwei Wochen arbeite als Praktikantin beim Tagesspiegel. Karlsruhe ist eine typische Beamtenstadt. Die Straßen sind blitzblank, Müll findet man wirklich nur in der Mülltonne, und die Häuser sind symmetrisch angeordnet, umrundet von Grün.

Ich freue mich auf Berlin, auf einen Hauch Türkei. Aber ein bisschen Angst ist schon da. Am Flughafen Schönefeld klemme ich die Handtasche fest an mich. Mir fallen die Geschichten über kriminelle Jugendliche, über Handtaschendiebe ein.

In der U-Bahn spielen Musiker. Fantastisch. Bei uns in Karlsruhe gibt’s Musikanten höchsten auf dem Marktplatz. Manche Fahrgäste schauen genervt. Mir ist nach Tanzen.

In der Wohngemeinschaft wartet Ayse auf mich. Sie ist 22 Jahre alt, studiert Wirtschaftsingenieurwesen. Wir brunchen, es gibt Saft und belegte Brötchen. „Ist Kreuzberg wirklich so gefährlich?“ frag’ ich sie. Ayse lacht. Ach was, sagt sie. Wenn ich schnell die Kreuzberger Migrantenszene kennenlernen will, soll ich am besten mitkommen: Heute geht sie zum Jugendtreff.

So sitze ich am ersten Tag schon inmitten von zehn, zwölf Jugendlichen. Es gibt Tee. Viele sind auf dem Robert-Koch Gymnasium in Kreuzberg. „Das ist die Schule, auf der die ermordete Hatun Sürücü war“, sagt ein Mädchen, sie sei sogar eine Bekannte der Frau gewesen. Ich bin total perplex. Diese Story kenne ich nur aus den Karlsruher Medien, das war so weit weg von mir. Eine andere kannte Hatuns Bruder, der sie angeblich erschossen hat. Sie sagt „Ayhan kann es niemals gewesen sein, er liebte seine Schwester über alles, er stand immer zu ihr. Bestimmt war das einer der älteren Brüder gewesen.“ Ich finde es unglaublich, mit Menschen zusammenzusitzen, die diese Leute kannten. Keine Ahnung, ob das für Berliner Verhältnisse normal ist.

Und dann werde ich der Held. Ich erzähle, dass ich Praktikantin beim Tagesspiegel bin, aus Süddeutschland komme und einen ähnlichen Migrationshintergrund habe, wie die Jugendlichen hier. Und dass ich gerne über die Migrantenszene in Kreuzberg schreiben will. Das finden sie prima: „Eine von uns, die über uns was erfahren möchte.“ Ein Junge will mich in seine Schule einladen, mir den Direktor vorstellen. Mal sehen.

Sie finden, dass ich so viel Deutsch rede. Ja, ich switche nicht so viel zwischen den Sprachen. Ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Wenn die Jugendlichen hier ein Wort auf Deutsch oder Türkisch nicht wissen, mixen sie einfach das Wort der anderen Sprache in den Satz. Sie erzählen mir von ihrem Leben, von Schwierigkeiten. Da ist etwa Aylin, 17 Jahre alt, die nach Kreuzberg gezogen ist, weil sie auf ihrer Schöneberger Schule ihr Kopftuch ablegen sollte. Rechtlich hätte sie dagegen vorgehen können, aber sie hatte Angst, nicht die gleichen Chancen zu bekommen. Jetzt wohnt sie in einer Mädchen-WG. Sie sind zu viert, zwei teilen sich ein Zimmer, 150 Euro macht das für jeden. Die Eltern unterstützen sie. Hauptsache, sie macht ihr Abitur.

Ein anderes Mädchen erzählt, dass sie beim Einkaufen immer wieder unhöflich behandelt wird. Manchmal komme sie sich vor wie ein Mensch zweiter Klasse. So etwas passiert mir in Berlin auch zum ersten Mal. Als ich etwa in der Lebensmittelabteilung bei Karstadt Kaffee kaufen will, sagt die Kassiererin kein Wort. Noch nicht mal „Zwei Euro fünfzig“. Aber die Kundin nach mir lächelt sie an und sagt „das macht dann bitte …“.

Die Tage vergehen schnell. Tagsüber bin ich in der Redaktion, am Wochenende besichtige ich Sehenswürdigkeiten, vom Brandenburger Tor bis zur Sehitlik- Moschee in Neukölln und dem Wannsee. Mit meiner Mitbewohnerin fahre ich nach Wedding, nur um original „Kumpir“, türkische Ofenkartoffeln, zu essen. Die bekommt man in Karlsruhe nicht, die kenne ich sonst nur aus der Türkei.

Einmal, nach Feierabend, verlaufe ich mich. Die U-Bahnstation hat sechs Ausgänge – und ich habe den falschen erwischt. Na super! Es regnet, es ist spät, ich bin müde. Auf der Straße stehen Jugendliche in Grüppchen, sie tragen fast bis zum Knie hängende Hosen, sie lachen und reden laut. Wo ist mein Pfefferspray? Da spricht mich einer an: „Hast dich verlaufen Abla? Suchst du eine Straße? Brauchst du Hilfe?“ Abla ist eine respektvolle Anrede, es bedeutet „Schwester“. Ich weiß: Das ist kein primitives Anbaggern, der will wirklich helfen. „Sehe ich denn so verloren aus?“ frage ich, und er lotst mich zur WG.

So etwas passiert öfters. Einmal hat mich ein Mädchen am Hermannplatz angesprochen, und fragte, ob ich von „hier“ sei. Ich würde so „interessiert gucken“ sagte sie, und fragt, ob ich zum ersten Mal in „Klein-Istanbul“ sei. Wir kommen ins Gespräch, sie will mehr über mich wissen, und ich über die Menschen in den Hinterhöfen. Dann ruft sie ihre Mutter an und sagt: „Mama, ich habe jemanden kennengelernt, ich bringe sie zum Abendessen mit.“ Wo gibt’s denn so was? Keine fünf Minuten geplaudert: gleich ein Abendessen gewonnen. Ich frage mich: Nehme ich die Einladung an? Schließlich bin ich in Neukölln. Kann ich einer Neuköllnerin trauen?

Ich sage ja. Wir laufen durch Hinterhöfe. Ein Ghetto, das selbst bei Tageslicht grau erscheint. Ein Betrunkener schaukelte vor uns her. Mir wird mulmig. All meine Vorurteile scheinen bestätigt. Das Treppenhaus ist dreckig, von Kaugummi bis zum Kondom ist alles vorhanden. Dann geht die Tür auf: Eine Frau öffnet, lächelt herzlich. In der Wohnung hängen islamische Kalligrafien, die Möbel sind modern und schön. Und dann gibt es alles mögliche: Suppe, gemischten Salat, Reis mit Gemüse und Geflügel mit Börek, Käsekuchen mit Creme á la Turca. Aber das allerbeste ist die Wärme, die diese Menschen mir geben.

Zum Abschluss habe ich in einem türkischen Buchgeschäft gestöbert. Da entdeckte ich das Buch von der Sängerin Sezen Aksu. Seit fast einem halben Jahr warte ich darauf, dass eine Freundin aus der Türkei es mir schickt! Dort ist es ausverkauft. Verrückt: Was ich in der Türkei nicht bekam, habe ich in Kreuzberg sofort gefunden.

Vor meiner Abreise habe ich Aylin noch mal getroffen. Ich ihr erzählt, was ich erlebte. Sie sagte: „In den schlimmsten Ecken findet man die besten Menschen.“

Hatice Kilicer

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