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Finger- und Fußprothesen in der Werkstatt.

© Felix Lill

Unterwelt Tokio: Besuch bei einem Prothesenbauer, der Männern der Yakuza neue Finger gibt

Mitglieder der japanischen Mafia, Yakuza genannt, müssen sich manchmal den kleinen Finger abtrennen. Damit das in ihrem bürgerlichen Leben nicht auffällt, baut Shintaro Hayashi ihnen Prothesen. Sehen Sie hier auch ein Video über seine Arbeit.

Als Shintaro Hayashi vor ein paar Jahren einen Anruf von der Polizei bekam, begann sein Herz zu rasen. In Hokkaido, Japans Nordinsel, sei ein Mann festgenommen worden. „War der bei Ihnen“, lautete die erste Frage. „Und wissen Sie überhaupt, wer das ist?“ Plötzlich befand sich Hayashi in einem Verhör, wobei er doch nur seinen Job getan hatte. „Ich antwortete ganz ruhig, so ruhig es eben ging“, sagt er süffisant und faltet die Hände hinter seinem Kopf zusammen. „Kurz darauf saß der Festgenommene dann im Gefängnis, wie mir mitgeteilt wurde. Da gehörte er wohl auch hin.“ Was der Mann gemacht habe? Hayashi antwortet knapp: „keine Ahnung“.

Shintaro Hayashi fertigt die Prothesen aus Wachs mit großer Sorgfalt

In der Werkstatt des Betriebs Aiwa Gishi riecht es nach Gips und Wachs. Es ist ruhig, hell, jeder Mitarbeiter läuft mit einer verschmierten Schürze durch die Gegend, hin und wieder werden ein Ohr, eine Brust oder ein Finger durch die Räume gereicht. „Der ist noch nicht gut, oder?“; fragt Reika Kanno ihren Chef. Nach einem kurzen, prüfenden Blick nickt Shintaro Hayashi und gibt ihn zurück. Es geht um den kleinen Finger eines Kunden, der auf dem Grundglied ungewöhnlich viele Haare hat. „Wir mussten jedes einzelne Haar mit einer Pinzette aus der anderen Hand ziehen und einsetzen.“ Es sei eine Frage der Zeit und der Genauigkeit. „Wenn wir die nicht genau hinkriegen, wird der Herr damit niemals vor die Tür können“, flüstert Reika Kanno in die Luft, als sie zurück an ihren Platz geht.

Es ist ein bisschen wie in einem Krimi. Regelmäßig werden beim Kleinbetrieb Aiwa Gishi, leicht westlich von Tokios besonders dicht besiedeltem Stadtteil Ikebukuro, halbseidene Gestalten salonfähig gemacht. Seit nun zehn Jahren ist der gelernte Prothesenmacher Shintaro Hayashi die beliebteste Anlaufstelle für alle möglichen Menschen, denen ein kleineres Körperteil fehlt. Nicht selten handelt es sich dabei um Männer, die in die Yakuza verstrickt sind, die japanische Mafia. Denn vermasselt einer von ihnen einen Auftrag oder macht sonst etwas falsch im Geschäft, ist es häufig üblich, dass sein kleiner Finger geopfert werden muss. „Bei mir kriegen sie einen neuen“, sagt Hayashi.

„In fünf Stunden können wir alles fertig haben.“ Ein Finger kostet umgerechnet 2300 Euro. Mit Gips wird zuerst ein Abdruck der vollständigen Hand gemacht, danach die Aushöhlung mit Wachs ausgefüllt. Diese Plastik ist dann die Grundlage für den neuen Finger, den Hayashi aus leicht formbarem Silikon nachbildet. Am Ende rührt Reika Kanno Farbe an, die genau der Haut entspricht. „Das ist das Allerwichtigste. Echt muss er aussehen“, sagt Hayashi ernst. Noch mehr als in anderen Ländern sei es Japanern wichtig, nicht als anders aufzufallen, um eine unangenehme Atmosphäre zu vermeiden. Das sei bei Menschen mit einer angeborenen Behinderung so, auch nach einem Unfall oder eben bei jenen, die sich ihren Finger als Bestrafung selber abschlagen mussten. Dass auch solche Kunden zu Hayashi kommen, ist die blanke Realität des Gewerbes. „Als ich meinen Betrieb gründete, wusste ich das.“ Jeder in Japan kenne die ungeschriebenen Gesetze der Yakuza, die sich gewöhnlicherweise zwar nicht offen zu erkennen gibt, von der aber trotzdem jeder weiß. „Wenn du jemanden siehst, dem der kleine Finger fehlt, dann hast du es ziemlich sicher mit jemandem von der Yakuza zu tun.“ Shintaro Hayashi höre schon beim ersten Anruf, um was für einen Kunden es sich handele. Von 200 Bestellungen im Jahr sei ein Fünftel mafiös organisiert.

Die Gründe, warum sie sich an Geschäfte wie Aiwa Gishi wenden, sind vielfältig. „Einige wollen aussteigen und ein neues Leben beginnen“, sagt Reika Kanno. Regelmäßig kämen Leute vorbei, die vor einem Jobinterview ihren Makel an der Hand loswerden wollen. Einmal wollte ein ehemaliges Mitglied buddhistischer Priester werden. Bei einer übliche Geste in dieser Position muss man allerdings seine Handflächen aneinanderlegen, wobei die Finger nach oben zeigen. „Würde der kleine Finger fehlen, wäre das ein Skandal“, sagt Kanno. Andere Kunden wiederum wollen der Yakuza treu bleiben, sich aber in der Welt jenseits des Untergrunds unauffällig bewegen können. „Letztens kam jemand, der auf die Hochzeit seiner Tochter gehen wollte.“

Auch ein Politiker brauchte einen Ersatz für den abgetrennten Finger

Dass mit der Dienstleistung für Kriminelle ein moralischer Konflikt entsteht, findet Shintaro Hayashi nicht. „Ich bin dafür da, die Menschen in den Alltag zu integrieren. Letzten Monat kam ein Mädchen zu mir, das ohne Finger geboren wurde und einen Job als Tänzerin im Disney Land Tokio will. Dafür braucht sie nun mal eine Hand.“

So ähnlich verhalte es sich bei Yakuza-Mitgliedern. Was die Kunden außerhalb seiner Praxis tun, sei nicht Hayashis Problem. Viele von ihnen seien schließlich auch nette Leute und berichten aus ihrem Leben, nicht selten mit Stolz, wie schmerzhaft das Abschlagen des eigenen Fingers gewesen sei. Kurz bevor Tokio Ende Juni seine Lokalwahlen abhielt, sei auch ein Bezirkspolitiker wieder vorbeigekommen. Auch dieser Mann brauchte einen neuen kleinen Finger.

Allein in Japans Hauptstadt gibt es mehrere Unternehmen, die sich in ihrem Prothesenangebot aufgrund der regen Kundschaft nach und nach auf Finger spezialisiert haben. Bei Aiwa Gishi kommen 60 Prozent der Klienten wieder, sagt Hayashi. Denn wird ein Finger täglich getragen, muss er nach einem halben Jahr neu gemacht werden. Und dann gebe es da das Problem der Hautverfärbung mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Aber natürlich, gibt Shintaro Hayashi zu, müssen einige Kunden ins Gefängnis und kommen dann nicht mehr zu ihm. Ob er dann einen Kunden verloren hat? „Eigentlich nicht“, sagt Hayashi und lächelt wieder. „Die meisten erzählen ihren Kollegen von mir. Und dann habe ich schon bald den nächsten Besucher.“

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