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Der Begriff "Lügenpresse" ist nicht nur das "Unwort des Jahres" 2014, er sollte ganz verbannt werden, findet unser Autor.

© dpa

Unwort des Jahres "Lügenpresse": "Wer nicht lügt, sagt nicht automatisch die Wahrheit"

Der Begriff "Lügenpresse" hat die Wahl zum "Unwort des Jahres" absolut verdient, findet unser Autor. Journalisten müssen sich aber auch an die eigene Nase fassen, gerade in Zeiten des schnellen Online-Journalismus. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Lars von Törne

Sehr zutreffend, überraschend zutreffend ist diese Wahl. "Lügenpresse" ist zweifellos ein Begriff, der die Wahl zum "Unwort des Jahres" durch die "sprachkritische Aktion" verdient. Der Nachteil: Jeder Journalist, der darüber schreibt, ist Partei und sollte sich vor allzu großer Selbstzufriedenheit angesichts dieser Wahl hüten. Denn wer nicht lügt, der sagt nicht automatisch schon die Wahrheit.

"Lügenpresse": historischer Ausdruck zur Diffamierung von Journalisten

Richtig ist auf jeden Fall: Jene, die in der historischen Rückschau als "Lügenpresse" beschimpft wurden, waren eindeutig auf der Seite der Wahrheit, auf der Seite des demokratischen Selbstverständnisses im Kampf gegen Hurra-Patriotismus und Rassismus. Das war so, als die deutschnationalen Kräfte vor und auf dem Höhepunkt des ersten Weltkriegs gegen "Vaterlandsverräter" hetzten, das war so, als Goebbels gegen die Pressefreiheit mobil machte. Um die Jahre 1917 und 1940 herum, das haben sprachwissenschaftliche Auswertungen ergeben, wurde das Wort "Lügenpresse" in den deutschsprachigen Büchern  mit Abstand am häufigsten verwendet, und das immer gegen jene Journalisten, von denen in der Rückschau absolut feststeht, dass sie auf der Seite der Wahrheit und Menschlichkeit standen. Das Schlagwort "war bereits im Ersten Weltkrieg ein zentraler Kampfbegriff und diente auch den Nationalsozialisten zur pauschalen Diffamierung unabhängiger Medien", begründete die Jury ihre Entscheidung.

Wer die historischen Fakten heute anders bewertet, der ist mit ziemlicher Sicherheit ein unverbesserlicher Nazi. Nein: Jene, die aktuell auf den Straßen von Dresden und anderswo "Lügenpresse" skandieren, gern auch mit dem Nachschlag "Halt die Fresse!", sind das in ihrer überwiegenden Mehrheit wohl nicht. Aber sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ein Lieblingswort von Josef Goebbels nutzen und sich damit zumindest fahrlässig in einen gefährlichen historischen Zusammenhang einordnen. Die Juroren gehen noch einen Schritt weiter und formulieren, "gerade die Tatsache, dass die sprachgeschichtliche Aufladung des Wortes Lügenpresse einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem vergangenen Jahr skandieren und auf Transparenten tragen, wohl nicht bewusst ist, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel jener, die ihn gezielt einsetzen".

Das Wort "Lügenpresse" darf nicht mehr verwendet werden

Das mag so sein oder auch nicht: Der Begriff ist ja nicht schwer aus der eigenen Empörung zu schöpfen, wenn man sich nun einmal der kollektiven Wahnvorstellung hingibt, die gesamte demokratische Presse habe sich dazu verabredet, über globale politische Abläufe die Unwahrheit zu sagen. Wie auch immer: Das Wort ist kontaminiert, es darf nicht mehr verwendet werden – und hat deshalb die Brandmarkung als "Unwort des Jahres" voll und ganz verdient.

Klar ist auch: Jene, die ihr Denken vom geschlossenen und unwiderlegbaren Weltbild der großen Verschwörungstheorien bestimmen lassen, sind mit der Wahl eines Unworts nicht zu erreichen, ihnen ist die ganze Welt in ihrer Erscheinung eine Lüge. Aber auch das Denken von uns Journalisten folgt ja zumindest einem bestimmten Weltbild, und in der immer stärker zunehmenden Hektik des Internet-Journalismus und der Live-Ticker ist der Druck groß, Behauptungen und unbestätigte Informationen als Wahrheit zu nehmen, wenn sie zu diesem Weltbild passen. Doch mit Lügen hat das nichts zu tun - das ist die Botschaft, die die Wahl zum Unwort des Jahres ganz klar aussendet, über die üble historische Konnotation hinaus.

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