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Verkehr: In Deutschland hält man nachts bei rot, in der Türkei gibt man Gas

In der Türkei verkaufen Fahrschulen Führerscheine, ohne dass die Fahrschüler etwas gelernt haben. Manche wissen nicht einmal, wo die Handbremse ist. Jetzt wollen die Behörden durchgreifen.

Wer Angst vor der Führerscheinprüfung hat, sollte es einmal in der Türkei versuchen. „Im Moment sieht das so aus, dass man ein paar hundert Meter auf einer geraden Straße fährt, und dann sagt der Fahrprüfer: ‚Fahr‘ rechts ran, du hast es überstanden’“, sagt Fikret Gürsoy, Fahrlehrer in Istanbul. Er hat Prüflinge gesehen, die nicht einmal wussten, wo sich die Handbremse befindet und die dennoch den Fahrtest bestanden. Gürsoy will, dass das nicht mehr so weitergeht.

Gürsoy trägt einen weißen Kittel und sieht eher aus wie ein Arzt oder ein Wissenschaftler, weniger wie ein Fahrlehrer. Aber dieser 52-Jährige will den Türken beibringen, richtig Auto zu fahren.

Da hat er viel zu tun. „Die Leute kennen die einfachsten Regeln nicht“, ruft er aus, weil er es auch nach vielen Jahren in der Branche immer noch nicht richtig glauben kann. „Wenn sich zwei Autos an einer Kreuzung begegnen, geben sich die Fahrer gegenseitig Handzeichen, um auszuhandeln, wer zuerst fahren darf. Da geht es nicht um Rechts vor Links.“

Auf den Straßen Istanbuls verteilt Gürsoy als staatlich sanktionierter Verkehrsinspekteur Knöllchen an seine Landsleute, er schreibt Zeitungsartikel über Verkehrsprobleme, er verfasst sogar fromme Gedichte, in denen er Gott um Hilfe bittet. „Gib‘ ewige Freude den Unfalltoten – und löse unsere Verkehrsprobleme“, heißt es in einem.

Himmlischen Beistand können türkische Autofahrer gut gebrauchen. Das starke Wirtschaftswachstum hat die Türken wohlhabender gemacht und die Zahl der Autos nach oben schnellen lassen. Derzeit rollen 17 Millionen Fahrzeuge auf den Straßen, das sind doppelt so viele wie vor zehn Jahren.

Das Risiko fährt mit. Das Land zählt rund 3800 Verkehrstote und 1,2 Millionen Unfälle im Jahr. Gemessen an der Zahl der Verkehrstoten pro 100 000 Fahrzeugen ist die Gefahr, in der Türkei im Straßenverkehr ums Leben zu kommen, etwa doppelt so hoch wie in Deutschland. Nicht zuletzt liegt das an Zuständen, wie Gürsoy sie beschreibt. Die türkischen Fahrschulen werben zum Teil mit Dumpingpreisen um Kundschaft und lassen auch gerne mal den theoretischen oder praktischen Unterricht ausfallen, um Kosten zu sparen. Möglich ist das, weil die Behörden sich bisher nur wenig für das Thema interessierten.

Selbst ohne Führerschein habe man von der Polizei nur wenig zu befürchten, sagt Gürsoys Fahrlehrer-Kollege Ihsan Celik. „Da passiert noch nichts“, sagt Celik mit einer wegwerfenden Handbewegung. Mehr als jeder zehnte Unfallfahrer in der Türkei hat keinen Führerschein.

Nun wollen die Behörden handeln. Seit Jahresbeginn sind Inspektoren des Bildungsministeriums zu mehr unangemeldeten Besuchen in den Kursen erschienen als in den vergangenen 25 Jahren zusammen, sagte der zuständige Beamte Mehmet Kücük. Die Ergebnisse der Inspektionen sind alarmierend. Nach Besuchen in rund der Hälfte der etwa 3300 Fahrschulen in der Türkei leiteten Kücüks Beamte mehrere hundert Ermittlungsverfahren wegen Mängeln in der Ausbildung ein. Das Ministerium will die erforderliche Pflichtzahl der Fahrstunden erhöhen und die Dauer der Fahrprüfungen verlängern.

Viele Fahrschulen ließen bei Regeln und Unterrichtsanforderungen regelmäßig Fünfe gerade sein, um die Kundschaft nicht zu vergraulen, sagt Fahrlehrer Celik. Wenn eine Schule sich an die Vorschriften hält, gehen die Leute einfach zur nächsten, die es mit der Anwesenheitspflicht beim Unterricht oder beim Erste-Hilfe-Kurs nicht so genau nimmt.

Ein brutaler Preiskampf ist außerdem im Gange. „Es gibt Schulen, die garantieren dir den Führerschein für 250 Lira“, umgerechnet 107 Euro, sagt Celik. Bei ihm kostet ein Kurs mehr als das Doppelte. Für Verkehrs-Aufseher Gürsoy ist aber nicht nur wichtig, dass die Behörden endlich besser kontrollieren: Die türkischen Fahrer sollten ihren Beitrag leisten und sich an die Verkehrsregeln halten. „Wenn in Deutschland ein Auto nachts um drei an eine rote Ampel kommt, dann hält der Fahrer an“, sagt er. „In der Türkei denkt der Fahrer: ‚Wer soll mich um diese Zeit schon sehen‘ und gibt Gas.“ Thomas Seibert

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