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Panorama: Vogelgrippe – der Tod kommt näher

In der Türkei sind zwei Kinder an der Infektionskrankheit gestorben. Sie hatten mit Hühnern gespielt

Erkältet seien die Kinder, sagte der diensthabende Arzt und schickte die Familie Kocyigit nach Hause. Zwei Wochen ist das her. Nun sind Mehmet und Fatma tot, ihre Schwester Hülya schwebt in Lebensgefahr, der kleine Ali ist schwer krank – und die ganze Türkei ist entsetzt: Vogelgrippe lautet der wahre Befund, der für den 14-jährigen Mehmet und die 15-jährige Fatma zu spät kam. Der Junge starb am Sonntag, das Mädchen am Donnerstag, ihre elfjährige Schwester ringt auf der Intensivstation mit dem Tod. In Dogubeyazit am östlichsten Rand der Türkei spielt sich das Drama ab, bei dem erstmals Menschen außerhalb von Südostasien an der Vogelgrippe starben. Die Seuche bewegt sich auf Europa zu, daran besteht kein Zweifel – doch übertragen lässt sich der Fall auf europäische Verhältnisse nicht. Armut, Unwissenheit und Inkompetenz waren mit daran schuld, dass die Kinder sterben mussten.

Vogelgrippe-Alarm herrscht in der Türkei schon seit einem Vierteljahr, seit das Virus im Oktober bei Truthähnen im westtürkischen Kiziksa festgestellt wurde. Bis in den unterentwickelten und verarmten Osten des Landes, wo längst nicht alle Menschen lesen können, sprach sich das nicht herum. Bei der Familie Kocyigit – wie bei vielen anderen Kleinbauern – wurden die Hühner weiterhin in Haus und Hof gehalten und in der Küche geschlachtet. Die inzwischen verstorbenen Geschwister spielten sogar mit den abgehackten Hühnerköpfen und warfen sie sich gegenseitig zu. Dass sie sich durch das Hühnerblut infizierten, gilt als wahrscheinlich.

Dem Arzt an der Gesundheitsstation in Dogubeyazit kam die Vogelgrippe aber nicht gleich in den Sinn, als Zeki Kocyigit seine vier erkrankten Kinder vor zwei Wochen dort vorstellte. Erst drei Tage später, als der besorgte Vater erneut mit seinen fiebernden Kindern in der Klinik auftauchte, kamen die Mediziner ins Grübeln. „Ob die Kinder sich wohl an den Hühnern vergiftet haben könnten, die wir neulich geschlachtet haben?“, dachte der Vater während der Untersuchung laut nach – und da fiel beim Arzt der Groschen. Die Kinder wurden ins Universitätskrankenhaus der nächsten Großstadt Van eingewiesen und auf Vogelgrippe getestet. Bevor die ersten Ergebnisse aus dem Labor zurückkamen, war Mehmet schon tot.

„Negativ“, lautete der Laborbefund dennoch. „Der Junge hatte keine Vogelgrippe“, erklärte das Gesundheitsministerium, schickte vorsichtshalber aber weitere Proben an spezialisierte Labore in Ankara und Istanbul. Weil die Proben „wegen schlechter Witterung“ nicht auf dem Luftweg, sondern auf der Straße quer durch das große Land nach Istanbul gebracht wurden, verstrichen weitere zwei Tage, bis das dortige Labor am späten Mittwochabend seinen Befund abgeben konnte: Die Kinder hatten Vogelgrippe. Für Fatma Kocyigit kam die Diagnose zu spät. Sie starb acht Stunden nach Bekanntgabe des Laborbefunds.

Selbst wenn die Diagnose früher gestellt worden wäre, hätte das Mädchen womöglich nicht gerettet werden können, denn in Van war das Vogelgrippe-Medikament Tamiflu nicht vorrätig. Zwei Tage mussten die Ärzte dort warten, bis das Medikament aus dem Westen der Türkei gebracht wurde. Erst am Montag trafen die Päckchen dort ein, wie der Chefarzt Ahmet Faik Öner sagte. Diese medizinische Unterversorgung ist im Osten der Türkei chronisch. Erst vor einem Jahr war dort kein Tollwut-Serum vorrätig, als Wölfe eine Kleinstadt überfielen und 15 Menschen zerfleischten. Und immer wieder sterben dort Kinder an Skorpionstichen, weil die örtlichen Kliniken das Gegengift nicht haben.

Während die Ärzte in Van um das Leben der kleinen Hülya Kocyigit kämpften, wurden immer weitere Kinder mit Verdacht auf Vogelgrippe ins Krankenhaus eingeliefert und teils auf der Intensivstation behandelt. Die Kinderstation der Universitätsklinik in Van wurde von allen anderen Patienten geräumt, um sie aufzunehmen; fünf Menschen wurden in die nächste Großstadt Erzurum verlegt, weil die Kapazitäten in Van erschöpft waren. Unter den neuen Verdachtsfällen waren alleine acht Kinder einer Familie namens Özcan, die ebenfalls aus Dogubeyazit stammt und Hühner hält. Das Problem wurzele in der Armut von Ostanatolien, wo viele Menschen sich Hühner für den Eigenbedarf im Haus halten, sagte der türkische Landwirtschaftsminister Mehdi Eker. Ein ernstes Problem ist das tatsächlich, wie der Minister sagte – aber noch keine Gefahr für Europa.

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