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Wenn die Sucht zu groß ist. Ärzte raten, in der Schwangerschaft vollkommen auf Alkohol zu verzichten. Foto: picture alliance/dpa

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Panorama: Vollrausch im Mutterleib

Babys, deren Mütter in der Schwangerschaft Alkohol trinken, kommen oft mit Schäden im Gehirn zur Welt. Ein neues Zentrum der Charité hilft Eltern und Kindern, mit der Behinderung umzugehen.

Nein, die Ringelmütze mag sie jetzt nicht. Jenny* sitzt in ihrem Kinderwagen, windet sich und guckt aus schmalen Augen starr in die Luft. Ihr Gesicht ist besonders niedlich, aber ausdruckslos. Schließlich schafft es ihre Pflegemutter, den kleinen Kopf zu bedecken und sagt: „Jenny ist zwei Jahre alt, aber erst so weit entwickelt wie ein neun Monate altes Baby.“ Weil sie wusste, dass Jennys leibliche Mutter Alkoholikerin ist, hat die Pflegemutter ihren Schützling zur Untersuchung ins Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden der Charité gebracht.

Die Einrichtung wurde erst vor kurzem auf dem Gelände des Virchowklinikums in Wedding eröffnet. Dort untersucht Kinderarzt Hans-Ludwig Spohr auffällige junge Patienten. Spohr, der bis 2005 die DRK-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Westend leitete, beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema. Er sieht oft mit einem Blick, was mit den Kindern nicht stimmt. Über Jenny sagt er: „Sie wirkt wie eine Käthe-Kruse-Puppe – das ist das typische Alkoholgesicht“: ein besonders kleiner Kopf, sehr schmale kleine Augen, der Abstand zwischen Mund und Nase ist viel größer als bei anderen Kindern und die Oberlippe kaum ausgeprägt.

Der Alkohol, den Jennys Mutter während der Schwangerschaft trank, hat Gehirn und Körper des Kindes schon im Mutterleib geschädigt. „Fetales Alkohol-Syndrom“ (FAS) nennt man das in besonders schweren Fällen, denen man es ansieht. Wie Jenny. Manchmal kommt noch ein Herzfehler hinzu. Bei anderen Kindern, die ins Zentrum kommen, ist die Schädigung nicht ganz so ausgeprägt. Bei ihnen spricht man allgemein von „Fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen“ (FASD). Auch ihr Wachstum ist verzögert, ihre geistige Entwicklung gestört.

Bei bis zu 4000 Kinder wird jedes Jahr in Deutschland ein Alkoholschaden diagnostiziert, davon leben etwa 200 in Berlin. Aber die Dunkelziffer sei hoch, sagen Spohr und sein Kollege Joachim Dudenhausen, Direktor der Kliniken für Geburtsmedizin der Charité. „Man weiß gar nicht, bei wie vielen Kinder das der Grund für eine Lernbehinderung ist“, sagt Spohr. „Die Gesellschaft hat noch nicht mitbekommen, dass es ein Problem gibt“, ergänzt Dudenhausen. Bei einer Umfrage unter Schwangeren in Berlin hatten neun Prozent der Teilnehmerinnen zugegeben, dass sie Alkohol getrunken hätten. „Man weiß nicht, wie viel Alkohol tatsächlich zu viel ist“, sagt Spohr.

Deshalb plädiert er für „die Null-Option“: Überhaupt keinen Alkohol. Viele Frauen wüssten noch nicht ausreichend über die Gefahren Bescheid, andere verleugneten ein Alkoholproblem. Aber leibliche Mütter suchen kaum Spohrs Rat. „95 Prozent der Kinder, die zu uns kommen, leben bei Pflegeeltern“, sagt er. Sie sind ihren Müttern wegen „Vernachlässigung“ vom Jugendamt weggenommen worden. Viele Pflegeeltern wüssten nicht, worauf sie sich einließen: „Der Alkohol wird von Jugendämtern oft nicht thematisiert“, sagt Spohr. Auch Ärzte würden bei weniger ausgeprägten Formen oft nicht an die richtige Diagnose denken.

Meist kämen die Pflegeeltern erst über eine Internetrecherche auf die richtige Idee und in Spohrs Sprechstunde. Viele machten sich Vorwürfe, dass sie ihre Schützlinge falsch behandeln. Vor allem wenn das Kind älter und die Behinderung immer deutlicher wird. „Die Diagnose ist wichtig, damit die Pflegeeltern wissen, dass es eine organische Schädigung und kein Erziehungsfehler ist.“ Dann könne man den Kindern mit Logo-, Ergo- und Psychotherapie helfen.

Außerdem sei es wichtig, dass Pflegeeltern ihnen einen besonders durchstrukturierten Alltag böten. Deshalb geht die 18- jährige Vicky * an Wochentagen immer um 22 Uhr ins Bett. Das hat Sabine Gehring* so eingeführt. Sie ist Pflegemutter von zwei Alkohol geschädigten Kindern: Vickys Pflegebruder Ben* ist 12. Sabine Gehring selbst wusste zwar bei beiden von Anfang an, was mit ihnen nicht stimmte. Schwierig sei die Erziehung dennoch: „Besonders Vickys Pubertät war schrecklich, hundert Mal so schlimm wie bei meiner leiblichen Tochter. Wie sie mich beschimpfte, das ging weit über normalen Pubertätsprotest hinaus.“ Eine andere Pflegemutter berichtet von „Attacken“ ihres Schützlings Carsten*: Mit einem spitzen Gegenstand bewaffnet sei er „brüllend wie eine verfolgter Wahnsinniger“ durch Haus und Garten gelaufen.

Jugendliche, deren Gehirn durch Alkohol im Mutterleib geschädigt ist, sind oft sehr aggressiv. Und sie verhalten sich auch sonst sozial auffällig, sagt Dudenhausen: „Ein großer Prozentsatz wird kriminell, weil sie nicht begreifen, wenn sie etwas verkehrt machen.“ Denn oft können sie Zusammenhänge nicht erkennen, die anderen ganz klar sind. Textaufgaben im Matheunterricht etwa stellen Vicky oft vor ein unlösbares Rätsel. Trotz ihrer Lernbehinderung war sie zunächst auf einer normalen Realschule, blieb dort aber zwei Mal sitzen. Heute besucht sie wie ihr Pflegebruder Ben eine Schule für Körperbehinderte. In eineinhalb Jahren wird sie ihren erweiterten Hauptschulabschluss machen. Ihre Pflegemutter glaubt an Vickys Erfolg. „Ob Ben das auch schafft, weiß ich aber nicht.“ Seine Behinderung ist stärker.

Bei Erwachsenen bleibt die Störung weiterhin bestehen, sagt Spohr: 80 Prozent aus beiden Gruppen könnten in keinem normalen Beruf arbeiten. Und 70 Prozent seien nicht in der Lage, allein zu leben. Das hat er in einer Langzeitstudie herausgefunden. Vicky kann sich gar nicht gut vorstellen allein zu leben. „Da kocht Mama ja nicht mehr für mich.“

(* Namen geändert)

Weitere Informationen unter www.fasworld.de und im Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden, Augustenburger Platz 1, Tel. 450 564 107

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