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An Emoticons gibt es inzwischen eine breite Auswahl.

© dpa

Vom Ende der Distanz: Wenn Emotion zum Terror wird

Unbekannte umarmen sich oder beenden eine Mail mit „LG“: Wenn Menschen sich wie wandelnde Emoticons benehmen, verschwindet zu viel an Distanz. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Arno Makowsky

Gestern kam wieder eine dieser E-Mails an, die so aufhören: „Herzlichst, Ihr…“ Der Name, der darauf folgte, war keine langjährige Kollegin, kein früherer Vorgesetzter, nicht mal ein alter Lehrer oder Uniprofessor, mit dem man sich einst gut verstanden hatte – was eine derartige Vertrautheit rechtfertigen würde. Ich kannte den Menschen, der mich mit „herzlichst“ verabschiedete, überhaupt nicht. Es war der Referent einer europäischen Gesundheitsorganisation, von der ich noch nie etwas gehört hatte.

Früher, vor ein paar Jahren noch, hätten solche Mails mit der Abschiedsfloskel geendet: Mit freundlichen Grüßen, Christian Maier. Oder, etwas salopper: Beste Grüße, Huber. Im Zuge der Verwitzelung der Gesellschaft im Allgemeinen und des Internets im Besonderen galten solche Formulierungen bald als spießig. Jetzt hieß es: Best, Sven. Oder: LG, Katrin. Wobei das „LG“ besonders absurd ist, weil die Anmut der persönlichen „lieben Grüße“ durch die Brutalität der Abkürzung vollends verwüstet wird. PR-Damen geben ihren Mailpartnern grundsätzlich „sonnige Grüße“ mit auf den Weg, auch wenn es draußen stürmt und schneit. Aber den meisten Profi- Kommunikatoren ist auch das mittlerweile zu unpersönlich. Jetzt grüßt man Unbekannte mit „Herzlichst“. Wer jemanden etwas besser kennt, sendet mindestens fünf Smileys und drei pulsierende Herzchen mit.

Das Verschwinden der Distanz zeigt sich nicht nur in der schriftlichen Kommunikation. Auch im persönlichen Umgang miteinander fallen plötzlich Schranken, die man jahrzehntelang als gegeben hingenommen hat. Zum Beispiel umarmen sich neuerdings immer Männer zur Begrüßung oder zum Abschied. Früher war das anders. Trafen sich zwei befreundete Paare, herzten sich die Frauen untereinander, die Männer drückten die jeweils andere Frau vorsichtig an sich und gaben ihr einen Wangenkuss. Und die Kerle untereinander? Schüttelten sich freundlich-distanziert die Hand. Ganz enge Kumpels bekamen dazu einen Klaps auf die Schulter.

Emotion ist alles, Distanz geht gar nicht

Diese Zeiten sind längst vorbei, heute schließen sich auch mittelgute Freunde zur Begrüßung in die Arme, als hätten sie sich seit 20 Jahren nicht gesehen. Man schlägt sich währenddessen gegenseitig auf den Rücken und stammelt freudetrunken: „Suuuper, dass wir uns sehen, echt grooßartig!“ Es ist praktisch das gespielte Emoticon. Smiley live.

Ja, Emotion ist alles, Distanz geht gar nicht. Das ist die Botschaft des Internets, wo alles bewertet, gefühlt, geliked wird. Daumen rauf, Daumen runter, hey geil, oh wie blöd, LOL. Das ist auch die Botschaft der Psycho- und Ratgeberliteratur, die uns ununterbrochen einredet, wir müssten unbedingt von uns selbst sprechen, Gefühle zeigen, uns öffnen. Oder hat schon mal jemand einen Ratgeber gelesen, in dem steht: Halt einfach die Klappe und nimm dich nicht so wichtig.

Wohin die permanente Gefühlsoffensive unter anderem führt, beschrieb kürzlich meine Kollegin Elisabeth Binder in ihrer Tagesspiegel-Benimmkolumne „So kann’s gehen“. Dort kam ein offenbar nicht mehr ganz junger Leser zu Wort. Er schilderte seine Beobachtung, dass bei Konzerten und im Theater neuerdings immer gegrölt und gepfiffen werde, wo früher zurückhaltendes Klatschen üblich gewesen sei. Neulich im Wintergarten habe er einen halben Gehörschaden davongetragen, weil seine jugendliche Sitznachbarin extrem laut gepfiffen und geschrien habe – aber nicht etwa, weil es ihr nicht gefallen hätte, sondern vor lauter Begeisterung. Klar: Sie spielte ein fröhliches Emoticon. Das mit den Kulleraugen und aufgerissenem Mund.

Überschwängliche Emotionen in der Öffentlichkeit sind salonfähig

Die Kollegin riet dem Mann, sich einfach mitzufreuen; es bleibe ihm eh nichts anderes übrig, weil selbst überschwängliche Emotionen in der Öffentlichkeit mittlerweile salonfähig seien. Vielleicht sind sie ja auch ein Ventil gegen den täglichen Druck, den der auf Effizienz getrimmte Normaldeutsche spürt. Je mehr er der Kälte des Marktes ausgesetzt ist, desto mehr Smileys enthalten seine Mails.

Interessant ist, dass der tägliche Emotions-Terror offenbar zu einem Bedürfnis an Restdistanz führt. Oder wie anders lässt sich erklären, dass laut einer GfK-Umfrage die meisten Arbeitnehmer es ablehnen, von ihren Chefs geduzt zu werden? Auch von Verkäufern, Kellnern und anderen Dienstleistern wollen die meisten Leute mit einem höflichen Sie angesprochen werden. Zum Glück.

Richtig schlimm wird’s erst, wenn sich irgendwann der Zahnarzt mit einer innigen Umarmung für den Besuch bedankt.

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