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Panorama: Weihnachtsausflug in die Todeszone

Ein 16-jähriger Schüler aus Florida schlägt sich nach Bagdad durch – um sich ein eigenes Bild zu machen

Patrick Quinn ist ein abgebrühter Reporter. Aber am zweiten Tag nach Weihnachten hätte der Büroleiter der US-Nachrichtenagentur AP in Bagdad fast einen Herzanfall erlitten. Da stand auf einmal ein 16-Jähriger in der Tür, der zwar die typische Hautfarbe von Irakern hatte, sonst aber in seinen Jeans und Nike-Turnschuhen wie ein Teenager in den USA aussah – und der, wie sich herausstellte, kein Wort Arabisch spricht. Farris Hassan war, wie das manche Jugendliche tun, von zu Hause ausgerissen. Doch er war auf abenteuerliche Weise von Fort Lauderdale, Florida, über Amsterdam, Kuwait und Beirut nach Bagdad gelangt. Dass er noch lebt, hat er wohl Quinn zu verdanken. Der griff zum Telefonhörer, informierte den US-Generalkonsul und sorgte dafür, dass der Junge vom „derzeit gefährlichsten Ort auf der Erde“ unter Militärschutz zum Flughafen gebracht und in die nächste Maschine nach Hause gesetzt wurde. An Neujahr traf er wohlbehalten bei seiner Familie ein. Als unterhaltsame Abenteuergeschichte, fast im Heldentod, wird die Story nun in vielen Medien erzählt. Farris älterer Bruder Mehdi, sieht das anders: „Er hatte vielleicht gute Absichten, aber das war naiv und lebensgefährlich.“

Ein Journalismus-Kurs an der High School hatte Farris zu dem Plan ermuntert. „Immersion“ (Eintauchen) heißt diese Spielart, in der der Reporter Selbsterfahrung im Gebiet, über das er berichtet, sammeln muss. In Deutschland hat Günter Wallraff es vorgemacht, der bei der „Bild“-Zeitung als Redakteur Hans Esser fragwürdige Boulevardmethoden aufdeckte und als türkischer Hilfsarbeiter Ali „ganz unten“ recherchierte. Farris war beeindruckt von einem Sammelband amerikanischer „Immersion“-Reportagen. Seine Pläne hatte er in einem Schulaufsatz angekündigt. „Ich weiß, es ist unglaublich riskant, in den Irak zu gehen. Dort gibt es Tausende, die meinen Kopf wollen. Dennoch will ich hin, um meinen Nachbarn in ihrer Not zu helfen. Wenn mich das in Gefahr bringt, dann soll es so sein.“

Die Familie stammt aus dem Irak und lebt seit 35 Jahren in den USA. Die Eltern sind Akademiker und wohlhabend. Farris meinte, wegen seiner Abstammung leicht ein irakisches Einreisevisum bekommen zu können. Zur Vorbereitung hatte in der örtlichen Moschee „mit Muslimen über Politik diskutiert“, wie er angab. Er selbst sei aber nicht religiös. Und er hatte versucht, sich ein Bärtchen wachsen zu lassen, um im Irak nicht aufzufallen. Von 900 Dollar, die ihm seine Mutter, eine Psychologin, geschenkt hatte, kaufte er ein Flugticket über Amsterdam nach Kuwait und verließ Florida am 11. Dezember. Der erste Anlauf zur Einreise scheiterte. An der kuwaitisch-irakischen Grenze, die zwei Tage vor den irakischen Wahlen scharf bewacht war, wurde er am 13. Dezember zurückgewiesen. Der folgende Streit mit dem Taxifahrer über den Fahrpreis von 100 Dollar hätte fast handgreiflich geendet. Unbeeindruckt von dem Misserfolg und den Aufrufen seiner Familie, heimzukehren, flog Farris nach Beirut, wo er zehn Tage bei Freunden wohnte. Am Weihnachtstag bekam er einen Flug nach Bagdad. Unbehelligt erreichte er die Innenstadt und bezog um 19 Uhr das Zimmer 1026 im Ausländer-Hotel „Palestine“ für 100 Dollar die Nacht. Hotelmanager Mouad Anwar gestand ein, gewöhnlich würden 16-Jährige ohne Begleitung Erwachsener nicht akzeptiert, aber „um des Geschäfts willen“ habe man eine Ausnahme gemacht und weil „jeder Ausländer bei uns ein Zimmer bekommt“.

Am Montag, 26. Dezember, Farris erstem vollen Tag in Bagdad, gab es dort sechs Autobombenanschläge mit fünf Toten und 40 Verletzten. Der Ortstermin, „um mir selbst ein Bild zu machen“, war problematisch. Das merkte Farris, als ihn der Hunger nach draußen trieb. Vor einem Imbissstand blätterte er in einem Wörterbuch nach den arabischen Ausdrücken – „da starrten mich die Passanten wie einen Verrückten an. Ich dachte, es ist besser, ganz schnell zu verschwinden.“ Nach einer weiteren Nacht im Hotel suchte er Hilfe im AP-Büro.

Am ersten Tag zu Hause ist Farris mit seinem Vater erst mal ein Steak essen gegangen. Nach den Erfahrungen im Irak genieße er jede Einzelheit des Alltags in den USA, sagt er. Die Schulleitung will ein ernstes Gespräch mit den Eltern führen, ehe sie entscheidet, ob Farris nach der „unverantwortlichen Aktion“ wieder in den Unterricht darf. Ein US-Soldat, der ihn zum Flughafen begleitete, kommentiert sarkastisch: „Die Reise in den Irak hätte er kostenlos haben können: einfach in die Army einschreiben.“

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