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Reinhard Schetters, der seine Frau Petra seit dem 19.05.2019 vermisst, sitzt im Esszimmer und schaut aus dem Fenster.

© Roland Weihrauch/dpa

Wenn der Angehörige vermisst wird: „Ich warte darauf, dass sie nach Hause kommt“

Millionen Menschen in Deutschland vermissen einen Angehörigen. Ein plötzliches Verschwinden bedeutet oft Chaos im Alltag.

Am Nachmittag des 19. Mai dieses Jahres wacht Reinhard Schetters auf dem heimischen Bett auf. Seine Frau, die sich ebenfalls zum Schlafen neben ihn gelegt hatte, ist nicht mehr da. Auf einem Zettel auf dem Schreibtisch hat sie die Botschaft hinterlassen: „Bin auf dem Friedhof.“ Schetters denkt sich nichts dabei, besucht seine Petra doch häufiger alleine das Grab ihrer Eltern und Schwestern.

Der Rentner beginnt, das gemeinsame Abendessen zu kochen. „Am Spätnachmittag bin ich nervös geworden, es war doch längst Zeit für die Rückkehr vom Friedhof“, erzählt der Mann aus Essen. Hier beginnt die Hölle, durch die Schetters seit diesem Tag geht.

Nach Angaben des Bundeskriminalamtes werden in Deutschland etwa 200 bis 300 Fahndungen täglich neu erfasst und auch gelöscht. Die Hälfte davon klären sich innerhalb der ersten Woche auf. Innerhalb von vier Wochen liegt diese Quote bei 80 Prozent. Länger als ein Jahr werden nur drei Prozent vermisst.

Der Publizist Peter Jamin, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten um Angehörige von Vermissten kümmert, rechnet vor: Bei 300 Registrierungen täglich sind das im Jahr über 100 000 Vermisstenfälle. Wenn jeder Vermisste nur fünf ihm nahestehende Menschen habe, dann seien das schon rund eine halbe Million Betroffene, darunter auch Schetters (71).

Reinhard Schetters zeigt ein Hochzeitsfoto mit seiner Frau Petra.
Reinhard Schetters zeigt ein Hochzeitsfoto mit seiner Frau Petra.

© Roland Weihrauch/dpa

Er geht an jenem Tag im Mai den Weg ab, den seine Frau genommen haben muss, fährt zu den vielen Freunden der geselligen 58-Jährigen. Nichts, nicht der kleinste Hinweis auf ihren Verbleib. In der Nacht bleibt Schetters mit seinen Ängsten allein. Als er am nächsten Morgen zum Polizeirevier geht, traut er seinen Ohren nicht. „Zerbrechen Sie sich doch nicht den Kopf, sie wird schon wieder auftauchen“, rät ihm der Beamte, so erzählt es Schetters. Eine Vermisstenanzeige nimmt er nicht auf.

Nach diesem Schock wendet er sich zwei Tage später ans Polizeipräsidium Essen – und erhält dort Hilfe. Dort wird veranlasst, dass ein Kanal nahe dem Friedhof von Tauchern und mit Sonarbooten abgesucht wird. Auch Suchhunde und eine Spezialeinheit sind im Einsatz und finden nichts. Nur so viel ist klar: Die Frau kam am Grab an, verließ den Friedhof – danach verliert sich ihre Spur. Auch die Suche nach Kontobewegungen – die Arzthelferin hatte ihr Portemonnaie samt Scheckkarten dabei - ergibt nichts.

Der Autor Jamin sagt: „Die Angehörigen stürzen in ein psychisches und organisatorisches Chaos.“ Bei ihm gehen ein- bis zweimal pro Woche Hilferufe ein, über die Jahre haben sich bei ihm 2000 Angehörige Vermisster gemeldet. Der 68-Jährige aus Düsseldorf hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Anrufern Trost zu spenden und praktische Hilfe zu vermitteln sowie die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken.

Angehörige können Abwesenheitspflegeschaft beantragen

Im Gespräch mit Betroffenen betont Jamin, dass nur hinter einem Prozent der Fälle Verbrechen stehen. Oder er bringt eine spontane Reise ins Gespräch. „Das ist positiver besetzt“, erläutert der Journalist. Um die finanziellen Dinge zu regeln – laufende Mietverträge, Versicherungen, Raten- oder Unterhaltszahlungen, Schulden – rät er, beim Amtsgericht eine Abwesenheitspflegschaft für sich oder einen Rechtsanwalt zu beantragen.

Ausgangspunkt seines 25-jährigen Engagements war ein Filmprojekt über Vermisste für den WDR. Dem Aufruf, sich bei ihm zu melden, folgte kein einziger Vermisster, dafür riefen umso mehr Angehörige verschwundener Menschen an. Er selbst war nie betroffen. „Aber ich habe die Not gesehen“, sagt Jamin.

Auch der Verband ANUAS, einer Hilfsorganisation für Angehörige von Mord-, Tötungs-, Suizid- und Vermisstenfällen, kümmert sich um das Thema. „Immer mehr Angehörige wenden sich in Vermisstenfällen an uns“, sagt Marion Waade, Mit-Gründerin und Bundesvorsitzende des Verbandes.

In vielen dieser Fälle kristallisierten sich später ein Tötungsdelikt oder ein Suizid als Grund heraus. „Die Angehörigen beschweren sich oft darüber, dass die Polizei sich nicht genügend um ihren Fall kümmert, auf fehlende Kapazitäten verweist, sie nicht ernst nimmt und zum Abwarten rät“, erzählt Waade, die selbst die Tochter durch Mord verloren hat. Nur bei Kindern, Senioren oder Menschen, die auf Medikamente angewiesen sind, zeigten die Beamten mehr Engagement.

Polizei hat festes Prozedere

Im Stuttgarter Innenministerium kann man die Kritik an der Polizei nicht nachvollziehen. Ein Sprecher von Ressortchef Thomas Strobl (CDU) verweist auf das überall einzuhaltende Prozedere bei Erstattung einer Vermisstenanzeige: erste Befragung, um umfassende Informationen zum Hintergrund, dem Sachverhalt und der vermissten Person zu erhalten, anschließende Lagebewertung. Dann folgen – abhängig vom Einzelfall – Fahndung, bundesweite Ausschreibung, Ermittlungen im persönlichen Umfeld, Durchsuchung von Örtlichkeiten sowie Standortbestimmung von Mobiltelefonen über den jeweiligen Netzbetreiber.

Auch Verbands-Frau Waade bemüht sich um einen realistischen Blick auf das Phänomen. „Wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, müssen wir die Angehörigen zuweilen auf die schmerzliche Möglichkeit hinweisen, dass der oder die Vermisste ein erwachsener Mensch ist, der entschieden hat, nichts mehr mit ihnen zu tun zu haben.“

Daran kann Schetters nicht glauben. Streit habe es zwischen den seit 16 Jahren verheiraten Eheleuten nicht gegeben, sagt der frühere Betriebsleiter. „Vermuten tut man alles, das fängt bei Entführung an über Suizid und hört bei Mord auf. Da wird man wahnsinnig.“ Und wenn seine Frau tot gefunden würde? „Das wäre die Katastrophe schlechthin, aber ich könnte das abschließen. Die ewige Ungewissheit wäre vorbei.“

Zurückgelassene könnten mit Tod oft besser umgehen

Diese Sicht teilt der ehemalige Techniker mit anderen Betroffenen. Jamin: „Manchmal ist die Verzweiflung so groß, dass die Zurückgelassenen sogar dankbar dafür wären, wenn man ihnen die Leiche des geliebten Menschen auf die Türschwelle legen würde.“ Die Ungewissheit zermürbt die Angehörigen. Sie kreisen endlos um ihren Verlust und drohen in die soziale Isolation oder Suchtverhalten abzurutschen. Das spurlose Verschwinden zehre ewig an den Angehörigen, sagt Jamin. Bei Todesfällen gebe es hingegen eine klare Ursache und einen Leichnam.

Angehörigen-Berater Jamin nennt das Beispiel einer Mutter, deren Tochter von einer Verabredung mit einer Freundin nie zu Hause ankam. Die Mutter hält das Zimmer seit fünf Jahren in demselben Zustand, in dem die Bewohnerin es verlassen hatte. Damit hält sie die Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Tochter aufrecht: Jede Veränderung des Raumes käme ihr wie ein Eingeständnis vor, dass sie ihre Tochter niemals wiedersieht.

Auch Schetters hat in der gemeinsamen Wohnung die Sachen seiner Petra nicht angerührt. „Nicht einen Hut habe ich weggepackt. Ich warte noch immer darauf, dass meine große Liebe nach Hause kommt.“ (Julia Giertz/dpa)

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