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Gammeln war gestern. Früher hing Flo auf der Straße rum. Jetzt freut er sich über die Anerkennung seiner Arbeit.

© David von Becker

Werbinich: Die Freizeitflicker

Früher bauten sie aus Langeweile Mist. Heute reparieren Flo und seine Freunde Fahrräder – mit Erfolg.

Die Hütte der einst fast verlorenen Jungs liegt versteckt hinter dichten Tannen. Halb Gewächshaus, halb Garage. Es muss das Haus vieler Kinder sein. Überall auf dem Grundstück liegen alte Fahrräder. Mountainbikes, Rad amputierte Rahmen, rahmenlose Räder, Speichen, Schutzbleche. Übereinander, nebeneinander, als hätte irgendwer sie einfach achtlos weg geworfen. Es sind Dutzende. Sie lehnen an Bäumen, an einem Schuppen aus Wellblech. Metallskelette auf einem Friedhof der Drahtesel.

Einer der Jungs, die ihnen wieder neues Leben einhauchen, steht vor einer hüfthohen Werkbank, einen Pedalenschlüssel in den Händen, die filigraner sind, als es sein militärischer Kurzhaarschnitt erahnen lassen würde. Flo, 17 Jahre alt, einen Ring im rechten Ohrläppchen, beugt sich über eines der Räder, das, mit Sattel und Lenker, verkehrt herum auf der Arbeitsplatte steht, und  zieht eine der Schrauben an den Pedalen fest. Staubpartikel tanzen in der Nachmittagssonne, die durch die breiten Oberlichtfenster fällt. Die Konzentration zeichnet kleine Falten auf seine Stirn, sein Blick haftet an dem Kugellager des Fahrrads, er prüft seine Arbeit mit einer Präzision, als gelte es einen Diamanten zu schätzen. Dann entspannt sich sein Gesicht. Er wirkt zufrieden. „Passt alles“, sagt er und wischt sich Kettenschmiere und Schweiß von der Stirn. Das Rad ist fertig. Er nimmt es von der Bank und schiebt es nach draußen, wo die anderen, Marc und Max, den aber alle hier nur Frieda nennen, gerade die  Lichtmaschine eines Damenrades  montieren. Auch sie sind konzentriert. Flo klopft den beiden auf die Schulter. Gut gemacht. Ein kurzes Nicken. Daumen hoch. Sie sprechen nicht viel. Es gibt genug zu tun. 

Jeder hat seine Aufgabe. Seit fast zwei Jahren treffen sie sich an jedem Freitag um 15 Uhr in der Werkstatt. Was sie davor an solchen Nachmittagen gemacht haben, lässt sich mit zwei Worten zusammen fassen „Früher“, erzählt Flo, „haben wir Scheiße gebaut. Und wie er es sagt, klingt es wie eine alte Angewohnheit, die er sich mit Mühe abgewöhnt hat. Scheiße bauen. Was soll man auch machen, mit 14, 15 in Panketal, einer kleinen Gemeinde im Niemandsland zwischen Buch, Bernau und Pankow. Nicht mehr Berlin, aber auch noch nicht Brandenburg, ein Ort ohne Eigenschaften, mit staubigen Straßen, die in Felder münden und Taxifahrern, die am Bahnhof stehen, ohne auf Kundschaft zu warten. Nach der Schule hingen sie auf dem Spielplatz in der Nähe oder „am Döner.“  „Was man halt so macht“, sagt Flo und lässt den Worten ein kurzes Schulterzucken folgen. Das Übliche, soll das wohl heißen. Eine Stadtrandjugend eben, mit Nachmittagen, an denen die Zeit zäh werden kann wie altes Kaugummi. Natürlich gab es Alkohol, zerschmissene Flaschen. Irgendwann haben sie Briefkästen abgetreten. Vandalismus als Trendsportart der Ziellosen. Es folgten die Beschwerden der Anwohner. Die Jugendlichen waren zum Störfaktor geworden. Aber wohin mit denen, die nicht wissen, wohin mit sich?

Gegen Spenden werden alte Fahrräder aufgearbeitet.
Gegen Spenden werden alte Fahrräder aufgearbeitet.

© David von Becker

Die Antwort auf diese Frage war ein altes Wohnmobil, an dessen Steuer der Mann saß, den sie in der Werkstatt nur „Buggy“ nennen. Daniel Bugenhagen, 30 Jahre alt, mobiler Jugendarbeiter in Panketal und Umgebung, erinnert mit seinen wasserstoffblonden Haaren und den scharf geschnittenen Gesichtszügen unweigerlich an Scooter-Schreihals HP Baxxter. Für die Jungs in der Fahrradwerkstatt ist er eine Art großer Bruder, weil er ihre Sprache spricht. Ohne Schnörkel oder aufgesetzte Pädagogikfolklore. „Sie freuen sich, wenn sie mich sehen“, sagt er, „aber sie freuen sich auch, wenn ich wieder weg bin.“ Da muss er lachen. So läuft das hier. Die Jungs respektieren Bugenhagen und nicht selten ist er der erste Ansprechpartner, wenn es Probleme gibt. Zu Hause, in der Schule, im Kopf. „Zu der Truppe hier habe ich einen richtig guten Draht“, sagt Bugenhagen, während er für alle Tee kocht. Was auch daran liegt, dass er „die Truppe“ schon eine ganze Weile begleitet.

Vor zwei Jahren begann er mit seinem Camper dorthin zu fahren, wo sich Flo und die anderen trafen. Dabei folgte seine Arbeit einer simplen Überlegung: Wenn die Jugendlichen das Angebot der Jugendeinrichtungen nicht von sich aus nutzen, muss das Angebot eben zu ihnen kommen. In der Pädagogensprache galten sie als „nicht intrinsisch motiviert“, Hänger und Gammler, ohne eigenen Antrieb, die man mit Töpferkursen oder einer Theater-AG nicht von der Straße weglocken konnte.

So wurde Bugenhagen zum Rattenfänger von Panketal, der mit dem Wohnmobil einen Ort anbieten konnte, der an kalten Tagen Wärmekammer und Zufluchtsort, an traurigen ein Kummerkasten auf Rädern war. Es gab Gulasch, Tee und zwei offene Ohren unter wasserstoffblonden Haaren. Oft saßen sie aber auch einfach nur zusammen und haben Karten gespielt oder Blödsinn. Im Wohnmobil entstand auch die Idee zur Fahrradwerkstatt. „Buggy hat uns irgendwann gefragt, worauf wir eigentlich Bock haben“, erinnert sich Flo. „Und wir wollten einfach einen Ort, an dem wir an unseren Rädern schrauben können.“

Also begannen sie im Juni 2009 begannen mit den ersten kaputten Schläuchen auch das Loch in ihrer Freizeit zu flicken. Wobei das Tuning der eigenen Räder schnell zur Nebensache geriet.

„Der ursprüngliche Ansatz war eigentlich, dass die Leute nicht mehr gebrauchte Fahrräder vorbei bringen und die Jungs die dann in der Werkstatt aufarbeiten, um sie gegen eine Spende zu versteigern“, erklärt Bugenhagen.

Doch das Projekt entwickelte eine Dynamik, die weder er noch die Jugendlichen so erwartet hatten. Auch, weil die Werkstatt in der Nachbarschaft großen Zuspruch fand. Gleich in den ersten Wochen wurden mehr als 150 Räder abgegeben. Heute fährt er an manchen Tagen bis nach Schöneberg oder  Bernau, um neue Spendenräder abzuholen. Zudem ist die Fahrradwerkstatt längst nicht mehr nur bloße Beschäftigungstherapie verhaltensauffälliger Intensivgammler, sondern ein kleiner Betrieb, der ernst genommen wird. Das Geschäft läuft gut. Geld verdienen die Jugendlichen in der Werkstatt allerdings nicht. Alle Einnahmen und Spenden werden gesammelt, bis genug zusammen ist für Ausflüge oder notwendige Einkäufe. Werkzeug, Getränke. Die Verwendung ist ihnen dabei selbst überlassen. „Das letzte mal waren wir alle gemeinsam Go-Kart fahren“, erzählt Flo, der die Arbeit in der Werkstatt nie als Nebenjob gesehen hat. Sie machen das hier schließlich für sich. Und ohnehin ließe sich die Anerkennung, die in jeder neuen Fahrradspende ihren Ausdruck findet, nicht in Geld aufwiegen.

Für Flo und die anderen ist sie noch immer ein ungewohntes Gefühl. Mit der Werkstatt ist auch ihr Selbstwertgefühl gewachsen. „Wir haben das hier alles selbst aufgebaut. Als wir hier angefangen haben, hatten wir nichts. Nicht mal richtiges Werkzeug“, erzählt Flo. Natürlich ist er stolz. „Heute kommen auch Leute, die hier ihre Fahrräder reparieren lassen, oder sich ein Ersatzteil besorgen, das im Fachhandel deutlich teurer wäre.“

Auch heute dauert es nicht lange, bis die erste Kundin vor der Werkstatt steht. Eine schmale blonde Frau. Sie sucht ein Fahrrad für ihren Sohn. Flo, „der Chefschrauber“, wie Bugenhagen sagt, wischt sich die Hände an seiner Hose ab, begrüßt sie mit einem Händedruck und führt sie zu einem Stapel bunter Kinderräder. Es folgt ein intensives Beratungsgespräch. Die Kundin ist zufrieden. Nächste Woche will sie das Rad abholen. Flo wird es aufbereiten, die Kette wechseln, ein neues Vorderrad einsetzen. Kein Problem. Vielen Dank. Er verabschiedet sich. Eine Szene ohne Seltenheitswert. Denn die Jungs haben in den Monaten in der Werkstatt mehr gelernt, als nur die Grundlagen der Mechanik. Den Umgang mit Erwachsenen. Vor allem aber: Den Umgang mit Verantwortung. „Am schönsten finde ich die Verhaltensänderung der Jugendlichen“, sagt Bugenhagen, der das Gespräch aus einigen Metern Abstand verfolgt hat. Den älteren vertraut er mittlerweile soweit, dass er sie auch ohne Aufsicht in die Werkstatt lässt. Dann   schrauben an ihren eigenen Räder. Meist ist es Flo, der auf die Jüngeren aufpasst. Auch dann, wenn Bugenhagen, der Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr in Panketal ist, plötzlich zu einem Einsatz gerufen wird.

An diesem Nachmittag leuchtet wieder einmal Bugenhagens Pager. „Ich muss weg, es brennt“, sagt er, drückt Flo die Schlüssel in die Hand und läuft zu seinem Auto. „Du machst dann alles zu“, ruft er noch. Flo nickt. Kein Problem. Scheiße bauen wird hier keiner.

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