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Panorama: Wildes Schlachten

Türkische Behörden gegen blutige Sitten beim Opferfest machtlos

Der Bosporus färbt sich rot vom Blut. An Straßenecken, in Parks und auf den Grünflächen von Istanbul und anderen türkischen Städten spielen sich in diesen Tagen barbarisch anmutende Szenen ab: Die Türken sind sonst die liebenswürdigsten Menschen der Welt, doch beim moslemischen Opferfest greifen Millionen von ihnen jedes Jahr zu Messer oder Beil und schlachten ein Schaf oder ein Rind – und zwar häufig auf offener Straße und ohne die nötige Erfahrung zu haben. Die Behörden bemühen sich zwar, die Einhaltung zumindest der wichtigsten Hygiene- und Tierschutzgrundsätze zu gewährleisten. Doch sie bekommen das wilde Schlachten einfach nicht in den Griff.

Uralt ist die Tradition, auf die das islamische Opferfest Eid al Adha zurückgeht. Muslime in aller Welt gedenken bis zum Donnerstag des Stammvaters Abraham, der als gehorsamer Diener Gottes seinen Sohn Isaak opfern wollte. Doch zumindest in der modernen Türkei, wo die meisten Gläubigen längst nicht mehr so viel vom Schlachten verstehen wie die Menschen in Abrahams Zeiten, wird das Opferfest für die Amateur-Metzger zur gefährlichen Angelegenheit. Am ersten Festtag gab es in der Türkei fast 2000 Verletzte und zwei Herzinfarkt-Tote.

Die Macht der Tradition ist groß und erfasst alle Bevölkerungsschichten. Krämer in Istanbul schlossen ihr Geschäft am ersten Festtag bereits nach wenigen Stunden wieder, um nichts zu verpassen. „Tut mir Leid“, sagte einer von ihnen mit einem vor Vorfreude strahlenden Lächeln: „Meine Familie wartet schon auf mich – sie wollen jetzt schlachten.“ Rund zwei Millionen Opfertiere müssen in der Türkei jedes Jahr dran glauben. Und dabei gehen die Türken nicht zimperlich zu Werke. Häufig vor den Augen von Kindern und Passanten wird den Opfertieren die Kehle durchgeschnitten und das Fell abgezogen, bevor das Fleisch verteilt wird. „Seen von Blut“ hätten in den Straßen gestanden, beschwerten sich die Zeitungen. In den anatolischen Städten Sivas und Konya wurden Rinder mit Winden an den Hinterbeinen in die Höhe gezogen, bevor sie von ihrem Leiden erlöst wurden. Mancherorts wurden die Tiere sogar an Stromleitungen aufgehängt.

Längst nicht alle Türken werden vom Blutrausch erfasst. Allein in Istanbul gab es am ersten Tag mehr als 500 Beschwerden bei den Behörden. Doch die Polizei ist angesichts der Massen von Schlachtwütigen machtlos. Die Kapazität der von den Behörden eingerichteten Schlachtzentren, in denen professionelle Metzger ihres Amtes walten, reiche nicht aus, verteidigen sich die wilden Schlächter, wenn die Polizei anrückt. Behörden und Presse warnen die Türken immer wieder vor Exzessen und beklagen den Schaden für das Image der Türkei im Ausland. Doch die Türken, die in manch anderer Hinsicht noch sehr obrigkeitshörig sind, lassen sich davon nicht beeindrucken. Selbst die Androhung von Bußgeldern hilft nur wenig.

Die begehrten Felle der Opfertiere sollen eigentlich einer Stiftung der türkischen Armee überlassen werden – doch zumindest in der Provinz profitieren vornehmlich fromme Stiftungen vom Opferfest. Nur kleine Erfolge können die Schlacht-Gegner vermelden. So sperrte die Istanbuler Polizei in diesem Jahr erstmals den Grünstreifen entlang der Autobahn, die Richtung Europa führt. Blutige Schlachtszenen waren von Kommentatoren in den vergangenen Jahren als Beispiel für die Rückständigkeit der Türkei herangezogen worden.

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