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© privat

World Wide WEG: Ein gruseliger Brauch

Das Leben als Einzelkind war schön, das Leben mit Geschwistern ist schöner. Vor allem, wenn man Hilfe braucht

Von: Jacqueline Möller

An: werbinich@tagesspiegel de

Betreff: Ein gruseliger Brauch

Viele Filme haben dieses Thema aufgegriffen: Ein Einzelkind erfährt plötzlich, dass es Geschwister hat und seine Welt steht plötzlich Kopf – es ist verwirrt, es kommt nicht klar, es hadert mit sich und der Umwelt. Doch was, wenn man von seinen plötzlichen Geschwistern von vorneherein weiß? Und auch, dass man sein eigenes Schwesterdasein nur für eine gewisse Zeit genießen kann? Dann trägt der Film wohl den Titel „Mein Leben in einer Gastfamilie während meines Austauschjahres“.

Nicht im Traum hätte ich mir vorstellen können, wie angenehm es ist, zwei ältere Schwestern zu haben. Sie sind unvergleichlich. Nett. Hilfsbereit. Aufgeschlossen. Verlässlich. Und unverzichtbar als Retter in der Not was zum Beispiel Halloweenkostüme angeht oder abendliche Abholaktionen. Sie sind stets zur Stelle – ich wusste gar nicht, dass Geschwisterhaben so angenehm sein kann. Sie lächeln selbst dann noch verständnisvoll, wenn ich mich zum gefühlt tausendsten Mal verlaufen habe und sie per Handy um Hilfe bitte. In den Weiten dieses Landes kein Wunder, selbst wenn sie mir den Weg detailliert beschrieben haben. Viele meiner Freunde in Berlin wären vermutlich genervt wegen meiner wiederholten Anrufe und würden mich einfach wegdrücken. Sie aber nicht. Mein Satz: „Tut mir leid, ich habe nicht die beste Orientierung …“ prallt an ihnen ab, als wäre er nicht nötig und völlig normal.

Auch meine Gasteltern sind wie aus dem Bilderbuch. Damit ich mich gut einlebe und auch ja nichts vermisse aus Deutschland, bemühen sie sich so sehr, dass ich fast schon ein bisschen peinlich berührt bin. Zum Beispiel was das Essen angeht. Bei ihren Supermarkteinkäufen versuchen sie, möglichst gesund einzukaufen und jegliches Fastfood zu vermeiden. Hierzulande hält sich nämlich der Mythos, dass die Deutschen sich sehr gesund ernähren. Mir war das bis zu Beginn meines Austauschjahres nicht bewusst, aber ich will meiner Gastfamilie auch nicht ihre Illusion zerstören. Immerhin geben sie mir das Gefühl, Teil der Familie zu sein. Tradition hat das gemeinsame sonntägliche Frühstück und gelegentliche Abendessen mit meinen Gastgroßeltern. Ansonsten gibt es aber nur wenige gemeinsame Familienaktivitäten, da jeder seinen eigenen Interessen in der Freizeit nachgeht. Trotzdem gibt es einen starken Familienzusammenhalt.

Wenn es ernst wird, wie etwa zu Halloween, kommen alle Familienmitglieder zusammen und lassen ihrer Kreativität freien Lauf. Kürbisse bekommen furchteinflößende Fratzen und Grimassen verpasst, das Haus wird in ein regelrechtes Gruselkabinett verwandelt. Tonnen von Süßigkeiten werden eingekauft und griffbereit neben der Tür deponiert. Neben Weihnachten ist Halloween die einzige Zeit, in der man das Thema gesunde Ernährung mal vergisst. Vitamintabletten und Brausepulver mit Magnesiumzusatz werden getrost beiseite gelegt. Was zählt: Dass das ganze Haus umgestaltet wird. Meine Gasteltern haben Fledermäuse, künstliche Skelette und Gespenster gebastelt oder besorgt. Bis zur letzten Minute sind sie damit beschäftigt, sie vorm Haus aufzuhängen und sie zurechtzuzupfen. Es scheint, als sei ganz Kanada in einem Konkurrenzkampf, wer das bestdekorierteste Haus hat. Für mich liegt meine Gastfamilie ganz weit vorne.

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