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Panorama: Zur eigenen Vergangenheit stehen

Unseren Leser Theo-Peter Koesling beeindruckte ein Lehrer, weil er Fehler zugab

„Papa Rohde“ nannten wir Siebtklässler in den fünfziger Jahren in einer Oberschule in Steglitz unseren Klassenlehrer. Wir hatten Latein und Geschichte bei ihm. Er war der erste Erwachsene, der uns gegenüber zugab, an den Nationalsozialismus geglaubt zu haben. Er erzählte, dass er als ehemaliges Parteimitglied nur noch als Studienrat unterrichten dürfe. Papa Rohde verstand es, uns Zwölfjährigen zu erklären, wie er zum Nazi geworden war, und ließ andererseits durch die Schilderungen seiner Erlebnisse keinen Zweifel an der Grausamkeit und Sinnlosigkeit des von den Nazis verursachten Krieges zu. Häufig gelang es uns, ihn mit den entsprechenden Stichwörtern zu versehen, was ihn dann zu Stunden füllenden Erzählungen aus dem Krieg oder von seinen Versuchen aus russischer Gefangenschaft zu fliehen verführte.

Er war mit einem steifen Bein aus dem Krieg zurückgekommen, was ihn aber nicht davon abhielt, bei jedem Wetter mit einem extra für ihn umgebauten Fahrrad in die Schule zu kommen.

Einmal haben wir ihm einen bösen Streich gespielt. Ich hatte ihm nach einer entsprechenden Aufforderung: „Traust dich ja nicht“, einen Reißnagel mit der Spitze nach oben auf seinen Stuhl gelegt. Als er zum Unterricht kam und sich hinsetzte, passierte – nichts. Wir hatten nicht gewusst, dass sein steifes Bein in Wirklichkeit ein Holzbein war.

Am nächsten Morgen setzte sich Papa Rohde nach einem prüfenden Blick auf seinen Stuhl und sah uns lange schweigend an. Wir wagten nicht, uns zu mucksen. Endlich erklärte er uns, wir würden wohl erwarten, die Stunde mit einer Untersuchung verbringen zu können, wer der Übeltäter gewesen sei. Aber wir hätten uns getäuscht. Er sei nicht daran interessiert zu erfahren, wer so hinterhältig und boshaft sei, einem Schwerbehinderten so etwas anzutun. Ich habe mich selten so geschämt. Dann schrieben wir, obwohl wir eigentlich Geschichte hatten, eine lateinische Übungsarbeit, die sich gewaschen hatte.

Eine Woche später brachte ich den Mut auf, zu ihm zu gehen und mich zu entschuldigen. Er sah mich zu meiner Überraschung freundlich an und meinte, dass er wohl wüsste, wie schwer mir dieser Schritt gefallen sei. Er habe selber genügend angestellt, um zu wissen, was es heißt, für seine Dummheiten einstehen zu müssen.

Theo-Peter Koesling ist 62 Jahre alt und hat als Grundschullehrer gearbeitet.

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