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Panorama: Zwei Väter und ein blütenweißes Hemd

Leser Thomas Lennert erlebte aufschlussreiche Reaktionen auf Tintenflecke

Nach Kriegsende hatte es uns als Flüchtlinge aus Pommern nach Niedersachen verschlagen, wo ich 1950 mit zehn Jahren in die 5. Klasse des Lüneburger Johanneums eintrat. Es war ein strenges altsprachliches Gymnasium, nur für Jungen. Mein Vater, der als Lehrer im Dritten Reich Berufsverbot hatte, war dort Studienrat geworden. Sei es aus Sparsamkeit – wir waren vier Kinder und das Geld war knapp – oder aus preußischer Askese, mein Vater war der Meinung, dass ein Füllfederhalter frühestens zur Konfirmation dran war. Ich war deshalb der einzige Schüler der Klasse, der noch mit Federhalter schrieb und dazu ein eigenes Tintenfass benötigte, das ständig hin- und her getragen wurde. In meiner Bank fehlte aber die übliche Öffnung dafür. In der Reihe vor mir saß Wolfgang U., den ich für einen feinen Pinkel hielt, weil er in weißem Hemd und mit langen Hosen kam, während ich die abgewetzten kurzen Hosen des Flüchtlingskindes trug.

Eines Tages noch vor Beginn der ersten Stunde geschah das Unvermeidliche: Mein Tintenfass kippte über Wolfgangs blütenweißes Hemd. Der trat sofort den Heimweg an. Warum er für das Wechseln seines Hemdes bis zur 5. Stunde brauchte, weiß ich nicht. Kurz vor Schulschluss erschien er wieder mit einem Paket und einem Brief an den Klassenlehrer, Herrn Dr. Biens. Das Paket enthielt das tintenbefleckte Hemd, der Brief vom Senatspräsidenten des Lüneburger Oberverwaltungsgerichts, Herrn Dr. U., lautete: „Sehr geehrter Herr Dr. Biens! Soeben kommt unser Junge mit völlig tintenbefleckter Kleidung nach Hause. Nach seiner Angabe hat der hinter ihm sitzende Schüler Thomas Lennert die Tinte über die Sachen gegossen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Tatbestand feststellen könnten, damit ich mich wegen der Angelegenheit an den Vater des Schülers Lennert wenden kann. Die Sachen bringt Wolfgang in einem Paket mit.“ Im Übrigen wäre es wohl an der Zeit, dass die Schule dafür sorgte, dass in den Bänken Tintenfässer untergebracht werden.

Herr Biens übergab Brief und Paket seinem Kollegen Dr. Lennert. Der setzte sich gleich an seine klapprige Schreibmaschine und schrieb: „Sehr geehrter Herr Senatspräsident! Ich lege Wert darauf, die menschliche und die rechtliche Seite dieser Sache zu trennen. Menschlich bedaure ich es aufs herzlichste, dass mein Junge, ungewollt und auf Grund einer Notlösung der Schule, dem Ihren diesen Schaden zugefügt hat und entschuldige mich dafür im Namen meines Sohnes, vor allem bei Ihrer Frau Gemahlin, deren Gefühle ich als Vater von vier kleinen Kindern nachempfinden kann. Meine Frau ist hinsichtlich der Behebbarkeit des Schadens etwas optimistischer als die Ihre und hat sich an diesen Versuch gemacht...“

Der Antwortbrief des Herrn Senatspräsidenten fiel im Ton milder aus als vorher. Offensichtlich hatte der Doktortitel des Herrn Studienrats Lennert seine Wirkung nicht verfehlt. Er räumt den rechtlichen Tatbestand der Unvorsichtigkeit anstelle des Mutwillens ein, und will „die rechtliche Seite der Angelegenheit im Augenblick nicht näher behandeln“ Das Hemd wurde in gereinigtem Zustand zurückgegeben, obwohl es noch keine Waschmaschinen gab.

Carl Hermann U. hatte sich 1940 mit dem Thema „Herrschaft und Führung im nationalsozialistischen Reich“ habilitiert und wurde nach dem Krieg einer der bedeutendsten Verwaltungsjuristen der Bundesrepublik. Auf seinen Sohn, Wolfgang U., stieß ich zufällig nach mehr als 50 Jahren. Er hatte die Sache mit dem Tintenfass völlig vergessen, aber der Briefwechsel, den mein Vater mir später überlassen hatte, war Anlass zu großer Heiterkeit. Er gestand mir, dass sein Verhältnis zu seinem Vater nicht ohne Spannungen war.

Thomas Lennert ist 66 Jahre alt und hat über 30 Jahre als Kinderarzt gearbeitet.

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