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Panorama: Zweieinhalb sehr lange Stunden

Gracia fährt für Deutschland zum Song Contest nach Kiew – und wird dort wohl chancenlos sein

Berlin - Fünfzig Jahre ist es her, seitdem der Eurovision Song Contest, damals noch „Grand Prix Eurovision de la Chanson“, zum ersten Mal ausgetragen wurde. Als Lys Assia 1956 im Kursaal von Lugano gewann, durfte Deutschland gleich zwei Interpreten, Freddy Quinn und Walter Andreas Schwarz, ins Rennen schicken – eine Gunst, die man 2005, nach überstandenem Vorentscheid, dankend ablehnen müsste. Denn was sich am Sonnabend in Berlin-Treptow der Abstimmung stellte, erfreute nur hart gesottene Song-Contest-Befürworter. Abgesehen von der Formation Orange Blue und dem Soul-Außenseiter Stefan Gwildis, gingen Kandidaten ins Rennen, denen das Schicksal viel, nur keine professionelle Sangeskarriere vorherbestimmt hat.

Als nach sehr langen zweieinhalb Stunden Gracia Baur, ein mittlerweile dem Blondhaar abtrünniges Sternchen aus RTL-Superstar-Gefilden, den Sieg mit „Run & Hide“ davontrug, ließ sich nicht mehr leugnen, dass der Eurovision Song Contest hier zu Lande in einem Tal der Tränen steckt. War es dem Norddeutschen Rundfunk in den Neunzigerjahren gelungen, eine vor sich hin dümpelnde Veranstaltung quotensteigernd aufzufrischen, so scheint dieses Schaulaufen der Namenlosen nun ausgereizt. Keiner da in Deutschland, der sich, nicht nur in der Politik, der großen Frage – „Könnten wir nach einem Vierteljahrhundert nicht mal wieder den Song Contest gewinnen?“ – annähme.

Die Arena in Treptow sah einen Abend, der vor allem aus Beiprogramm bestand: Ruslana, die 2004 für die Ukraine gewann, Guildo Horn, Ex-Spice- Girl Emma Bunton, Patricia Kaas oder der „Lindenstraßen“-Mediziner Georg Uecker streckten die zehn Liedbeiträge auf Prime-Time-Länge und bekräftigten, die Versweisheiten Heinz Erhardts, der Deutschland übrigens nie vertrat: „Damit man sähe, was man höre, / erfand Herr Braun die Braunsche Röhre. / Wir wär’n Herrn Braun noch mehr verbunden, / hätt’ er was anderes erfunden.“

So wurde „Germany 12 points“, dieser mehr als fromme Wunsch, zu einer Abfolge mäßiger Darbietungen, die fast alle durch Sekundäruntugenden auf interessant geschminkt wurden: Die akrobatisch talentierte Ellen ten Damme redete mit „Plattgeliebt“ George W. Bush ins Gewissen und stützte sich auf ihren Songschreiber Udo Lindenberg, dessen wohlfeiles Friedensgefasele inzwischen jede Peinlichkeitsgrenze überschritten hat. Vera Viehöfer alias Villaine wollte mit der vermeintlichen Ungeheuerlichkeit eines dünnen Songs über lesbische Liebe punkten. Die aus Mannheim stammende Gruppe Königwerq setzte ganz auf die lebensbejahende Ausstrahlung ihrer schwangeren Leadsängerin. Über die textarme Beschwörung religiösen Gedankenguts, die die Truppe Allee der Kosmonauten betrieb, sei der Mantel christlicher Nächstenliebe gelegt. Und den am Ende auf Platz zwei gelandeten Nicole Süßmilch, die zuvor „jahrelang im Kosmetikbereich“ tätig war, und Marco Matias wäre es um schlappe fünf Prozentpunkte fast gelungen, Ralph Maria Siegel ein weiteres Mal auf die Grand-Prix-Rennbahn für Gnadenbrotpferde zu schicken.

Nein, es war ein schwacher Vorentscheid, dessen Titel wir morgen fast alle vergessen haben werden. Was diesen Talenterprobungsschuppen freilich seinen besonderen Schrecken gab, hat einen Namen: Reinhold Beckmann. Groß muss die Verzweiflung beim Norddeutschen Rundfunk gewesen sein, 2005 seine schreckliche Allroundwaffe, den Weichspültalker Beckmann, als Animateur an die Rampe zu schicken. Von der ersten Minute an chargierte dieser als sich cool gebender Beobachter, der seine einstudierten Scherze über Joschka Fischer und Wolfgang Clement abspulte, fachliche Fehler produzierte (der letzte deutsch gesungene deutsche Grand-Prix-Beitrag stammt keineswegs von Stefan Raab) und Promigespräche führte, die mit erbarmenswürdig noch höflich beschrieben sind. Beckmann und Lindenberg – jede Journalistenschule sollte diesen Furcht erregenden Zwei-Minuten-Dialog ins Lehrprogramm (Seminareinheit „Unsinn reden, und dies aneinander vorbei“) aufnehmen.

Reinhold Beckmann und seine nicht weniger marionettenhaft agierende Viva-Assistentin Milka rundeten das Elend ab. Deutschland kommt nicht voran, auch nicht beim Eurovision Song Contest. Dieser – so der Fachmann Jan Feddersen – habe den „Zenit der ästhetischen Weiterentwicklung deutscher Popularmusik“ längst hinter sich. Fazit: Gracias „Run & Hide“ ist ein Durchschnittssong, vorgetragen von einer Interpretin mit dekolletebetontem Outfit, das, wie der Jubeltaumel zeigte, noch nicht allen Belastungen standhält. Am 21. Mai in Kiew wird Gracia chancenlos sein. Wer hätte anderes erwartet?

Rainer Moritz

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