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Der Philosoph Rüdiger Safranski

© Arno Burgi/pa/dpa

Philosoph Rüdiger Safranski: „Manche Tote sind lebendiger als Lebende“

In der Kunst wird nichts wirklich Neues erfunden, sagt Rüdiger Safranski. Warum Goethe heute Gastgeber einer TV-Sendung wäre und Schiller mitmachte.

Von Barbara Nolte

Im Kino läuft zurzeit ein Film von Dominik Graf über Schiller, und an deutschen Theatern ist „Faust“ von Goethe seit Jahren das am häufigsten inszenierte Stück. Herr Safranski, was haben uns die Klassiker Schiller und Goethe heute noch zu sagen?

„Faust I“ ist der Mythos des Sinn suchenden Menschen. Das Stück ist einfach gebaut, populär – es war ja mal ein Puppenspiel – und doch tiefsinnig. Eine unnachahmliche Mischung, wie sie in der Weltliteratur nur in wenigen Stücken gelingt. Zum Beispiel Homer mit der „Odyssee“: Da will jemand nach Hause und muss Riesenumwege machen.

Der erfolgreichste Kinofilm des vergangenen Jahres war die Teenager-Komödie „Fack ju Göthe“. Offenbar traf auch der Titel einen Nerv.

Da Goethe noch immer auf einem Podest steht, gibt es natürlich eine antiautoritäre Verweigerungshaltung gegen ihn.

Teilten Sie diese Haltung?

Erst später, als die 68er-Zeit losging. Ich studierte hier an der Freien Universität in Berlin. Genauso, wie man damals die lebenden Autoritäten angriff, so tat man es auch mit den Toten. Gegen den offiziellen Kanon brachte man die weniger beleuchteten, doch ebenfalls genialischen Dichter wie Büchner oder Lenz in Stellung.

Jede Kleinstadt hat ihr Goethe- und ihr Schiller-Gymnasium. Es gibt in Deutschland zwölf Goethe- und sogar 19 Schiller-Denkmäler. Ist diese Wertschätzung nicht übertrieben?

Jedes europäische Land hat so ein Icon oder zwei: In Italien sind es vielleicht Dante und Petrarca, in Frankreich Voltaire und Sartre. Meistens sind es nur wenige Figuren, die die Tradition einer Nation verkörpern. Man könnte zu analysieren versuchen, warum es in Deutschland ausgerechnet Goethe und Schiller sind und nicht Kleist. Es gibt nachvollziehbare Gründe dafür, doch es spielt auch Zufall eine Rolle, und Eigendynamik.

Sahra Wagenknecht von den Linken zeichnete in einem Essay für die „FAZ“ Goethe als antikapitalistischen Helden. Demnach ist Goethe sogar linksparteifähig.

Ich saß mal mit Sahra Wagenknecht auf einem Podium. Sie hat, was mir sympathisch ist, offenbar einen Narren an Goethe gefressen. In „Faust II“ ist bereits die ganze Problematik des modernen Unternehmertums dargestellt, zugleich bewundernd und kritisch. Faust endet als Global Player. Er will Land urbar machen, das alte Ehepaar Philemon und Baucis steht dem im Wege. Beide werden plattgemacht. Das ist doch sehr aktuell.

Sie schreiben seit einem Vierteljahrhundert Biografien. Erst Ihre letzte handelte von Goethe. Der Reihenfolge nach zu schließen, scheint der für Sie nicht der wichtigste deutsche Dichter zu sein.

Das kann man so nicht sagen. Ich bin schon früher um ihn herumgeschlichen. Schopenhauer, die Hauptfigur meines zweiten Buches, hatte in jungen Jahren eine Begegnung mit dem alten Goethe. Anschließend schreibt ihm Goethe ins Stammbuch: „Willst du dich deines Werts erfreuen, so musst der Welt du Wert verleihen.“ In dem Satz steckt das Betriebsgeheimnis von Schopenhauer und zugleich von Goethe. Schopenhauer, der sein Selbstbewusstsein in fast feindseliger Abgrenzung zur Welt zu gewinnen versucht. Dagegen sagt Goethe: „So geht das nicht. Du musst der Welt Wert verleihen, damit du dich selbst wertschätzen kannst.“ Damit formuliert Goethe sein Lebensprinzip: Grüblerische Selbstversenkung bringt nichts. Man kann sich selbst nur im Spiegel der Welt begreifen. Goethe war unheimlich tätig. Es kam gar nicht so sehr auf die Ergebnisse an, sondern darauf, dass man etwas Produktives mit sich anstellt. Mir war damals schon klar: So toll seine Werke sind, noch spannender ist, wie er sein Leben gestaltet.

Konnten Sie schon als Schüler etwas mit Goethes Werken anfangen?

Wir lasen am Gymnasium in Rottweil „Iphigenie auf Tauris“ ...

… ein ursprünglich aus der Antike stammendes Stück über eine von Göttern verfluchte Familie.

Wir haben uns fürchterlich gelangweilt. Unsere Lehrer haben die falsche Wahl getroffen: Der „Werther“ ist viel frischer.

„Iphigenie auf Tauris“ wird noch heute häufig gespielt.

Sehr verwunderlich. Schon zu Goethes Zeiten war die einschläfernde Wirkung des Stückes beträchtlich. Es war ja ursprünglich dafür gedacht, der Herzogin in Weimar, die soeben geboren hatte, einen nicht allzu aufregenden Abend zu verschaffen.

Wäre es nicht lohnender, wenn für das Theater neue Stücke zu zeitgenössischen Themen entwickelt würden, anstatt immer dieselben Klassiker aufzuführen?

In der Kunst wird ohnehin im Grunde nichts wirklich Neues erfunden. Es werden vorliegende Muster variiert. Aus Altem wird Neues gemacht. Ich sehe es ja an mir selbst: Mir fällt am meisten ein, wenn ich mich mit historischen Figuren befasse.

"Schiller musste vom Schreiben leben"

Der Philosoph Rüdiger Safranski
Der Philosoph Rüdiger Safranski

© Arno Burgi/pa/dpa

Als Schiller ein Stück für das Mannheimer Theater plante, riet der Intendant dort, dass „rührende Familiengeschichten“ vor historischem Hintergrund gut ankämen. Ein Muster, dem heute die großen Fernsehspiele folgen: Da werden Liebes- und Familiendramen während der Bombennacht von Dresden oder des Grubenunglücks von Lengede erzählt ...

... bemerkenswerterweise sind die Hauptgeschmacksrichtungen gleich geblieben. Es gibt die Räuberstücke oder die Rührstücke und die Mischung aus beidem. Schiller war Berufsautor. Er musste vom Schreiben leben. Deshalb knüpfte er an diese Genres an und veredelte sie. In den „Räubern“ kam er der Vorliebe für Räuberpistolen entgegen, in „Kabale und Liebe“ der für Rührstücke.

Viele von Schillers Stücken spielen bei Hof. Griff er die Adelsfaszination auf, die heute eine der Säulen von Groschenheften ist?

Schiller ging es meiner Meinung nach darum, anthropologische Grundkonflikte in der wirkungsvollsten Art darzustellen. Nur im Adelsmilieu hatten die Menschen damals Handlungsspielräume, um sich zum Vollbild eines Menschen zu entwickeln: im Guten wie im Schlechten.

Ein Großteil der Menschen litt damals – Ende des 18. Jahrhunderts, Anfang des 19. Jahrhunderts – große Not. Die soziale Realität ihrer Zeit kommt in den Stücken von Goethe und Schiller nicht vor.

Es ist ein modernes Phänomen, es als Skandal zu betrachten, dass Menschen in unterschiedliche Lebensverhältnisse hineingeboren werden. Erst in der Generation nach Goethe und Schiller, im Vormärz, bildete sich ein soziales Bewusstsein heraus. Heine befreundete sich mit Karl Marx. Dennoch sagte Heine, wenn der Kommunismus einmal siege, würden aus dem Papier, auf das seine Gedichte gedruckt seien, Tüten gefertigt für die Kartoffeln, die verteilt würden. Heine sah voraus, dass irgendwann alles nur noch nach sozialer und ökonomischer Nützlichkeit beurteilt würde. Den Fehler machte dann auch meine Generation in der 68er-Zeit. Literatur sollte Herrschaftsverhältnisse entlarven ...

… eine Waffe im Klassenkampf werden …

…und was dabei unter die Räder kam, war das Verständnis für das Kreative, das immer auch etwas Zweckfreies hat, eben für den Kunstcharakter. Das hatte Schiller und Goethe bereits empört. Wie Schiller sagte: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Heute bevölkern Spielertypen Politik und Wirtschaft. Ist das ein Fortschritt?

Dass da Leute aus der Finanzwirtschaft unser Geld verspielen, ist natürlich schlecht. Doch es ist ein Merkmal der Zivilisation, dass Ernstfälle in Spiel verwandelt werden. Parlamentarismus ist ein hoch rituelles Spiel. Statt Bürgerkrieg gibt es Parteien, die in halbwegs gesitteter Form miteinander Kompromisse aushandeln. Ich denke manchmal: Wenn die Nationalehre schon durch Fußball zu befriedigen ist, muss ich nicht fürs Vaterland sterben.

Gerhard Schröder wurde immer vorgeworfen, ein Spieler zu sein.

Für mich ist das kein schlimmer Vorwurf. In der Mediengesellschaft gehört es dazu, dass Politiker sich selbst spielen. Die Leute wollen es so. Der springende Punkt ist, ob es ein gutes Spiel ist oder schlechter Geschmack. Es ist eine reine Stilfrage.

Rührt Ihre Toleranz gegenüber Selbstdarstellern aus Ihren Erfahrungen als Moderator des „Philosophischen Quartetts“? Sie hatten da nicht wenige zu Gast.

Ich unterscheide zwischen Leuten, die mit sich spielen können, und solchen, die sich nur bewirtschaften. Ich sagte im Vorfeld zu den Gästen: „Jetzt kommt es nicht darauf an, dass Sie noch mal das verteidigen, was Sie immer sagen.“

Trotzdem verfielen Ihre Gäste oft in ihre üblichen Rollen. Vielleicht funktioniert Originalität in der Mediengesellschaft gar nicht mehr. Nur durch ständige Wiederholung wird man zur Marke.

Dem alten Goethe hat mal jemand vorgeworfen, dass er Jahre zuvor über ein bestimmtes Thema ganz anders gesprochen habe. Goethe antwortete nur: „Bin ich darum 80 Jahre alt geworden, dass ich immer dasselbe denken soll?“ Diese Freiheit nehmen sich heute leider nur ganz wenige.

Wie lange schreiben Sie eigentlich an einer Biografie – beispielsweise an der über Goethe?

Die Vorarbeiten dauerten einige Jahre, das reine Schreiben zwei Jahre. Biografien haben es immer an sich, dass sie tödlich enden. Am Ende steht also immer auch ein Abschied. Jede Figur, mit der ich mich befasse, prägt meine Lebensatmosphäre. Schiller hatte beispielsweise etwas Ansteckendes. Ich war mit Joachim Fest befreundet, der die großartige Hitler-Biografie geschrieben hat. Ich sagte einmal zu ihm: „Ich könnte über eine Figur, die mir so dermaßen gegen den Strich geht wie Hitler, keine Biografie schreiben.“

Schiller und Goethe sind Ihnen sympathisch?

Doch, das auf jeden Fall.

Am jungen Goethe fällt in Ihrem Buch vor allem sein Geltungsdrang auf. Sie schreiben, dass er seine Mutter morgens drei Kleidergarnituren für ihn heraussuchen ließ: eine für das Haus, eine für Besuche sowie eine Art Festgarderobe.

Der war schon ein eitler Kerl. Er kämpfte auch mit einem Auf und Ab der Gefühle. Einmal kam er sich wie ein König vor. Dann war er wieder bedrückt. Der junge Goethe war ein Ausbund an Lebendigkeit und zugleich ein verwöhntes Kind.

Der ältere Goethe scheint von einem enormen Überlegenheitsgefühl geprägt.

Goethe wusste schon, dass er Goethe war. Er hatte ein Gefühl dafür, dass er ein Leben an der Rampe führt. Er hat es genossen. Und er sah darin eine Verantwortung.

Der an sich großartige Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller war in der Intention zwiespältig. Beide sprachen sich persönlich an. Die Briefe waren aber von Anfang an dafür bestimmt, verlegt zu werden. Sie opferten das Private dem Ruhm. Auch kein irrsinnig sympathischer Zug.

"Ihre Freundschaft machte sie zu Mythen"

Der Philosoph Rüdiger Safranski
Der Philosoph Rüdiger Safranski

© Arno Burgi/pa/dpa

Die Freundschaft verstanden beide als Teil ihres Werkes. Gerade ihre Freundschaft machte beide zu Mythen im 19. und im 20. Jahrhundert. Ich zweifle manchmal daran, ob der Mythos noch bis ins 21.Jahrhundert ausstrahlt, weil man ja nicht weiß, wie es mit der Lesekultur weitergeht.

In den letzten Jahren wurden Schiller und Goethe zu Protagonisten in Liebesfilmen: jetzt von Dominik Graf, zuvor von Philip Stölzl. Was halten Sie von so einer Verjüngungskur?

Wenn so was gut gemacht ist, habe ich nichts dagegen. Den Film von Graf werde ich mir bestimmt noch anschauen.

Würden Sie nicht mal gerne eine Biografie über einen Zeitgenossen schreiben?

Nein, manche Tote sind lebendiger als manche Lebenden.

Hätten Sie gerne zu der Zeit von Goethe und Schiller gelebt?

Ja, allerdings hätte es schon in den besseren Kreisen sein müssen. Das Leben war langsamer, wenn auch kürzer. In den Bildungsmilieus war der soziale Umgang beschränkter, aber nachhaltiger.

Stellen Sie es sich nicht langweilig vor im kleinen Weimar mit seinen 6000 Einwohnern – bei den Zerstreuungen, die wir heute gewohnt sind?

Langeweile war nicht so sehr das Problem, über das die Leute damals geklagt haben. Man darf das Leben damals nicht romantisieren. Ich bin Jahrgang 1945, also ein richtiges Friedenskind. Man muss sich alle Sicherheiten, die wir heute selbstverständlich konsumieren, wegdenken, um die Zeit auch nur ansatzweise zu begreifen. Das Leben fühlte sich ganz anders an: möglicherweise intensiver, stärker, abenteuerlicher.

Sie haben über die Entstehung der Arbeiterliteratur in Deutschland promoviert, ein zeitgenössisches Thema.

Wir haben damals an den Werktoren Flugblätter verteilt, bei Borsig beispielsweise Aufrufe zur 1.-Mai-Demonstration. Das Thema entstand also aus dieser Bewegtheit.

War es für Sie wichtig, dass die Arbeiterliteratur auch von Arbeitern geschrieben wurde?

Man war heilfroh, wenn es Einzelne gab, die das auch tatsächlich konnten: wie Max von der Grün, der war Bergarbeiter. Manche Schriftsteller haben Schreibwerkstätten gemacht.

Wie in der DDR, entsprechend dem sogenannten Bitterfelder Weg.

Ja, aber die DDR war uns zu unansehnlich. Wir waren Maoisten. Uns erschien es antiautoritär, dass ein Mann des Apparats, Mao Tse-tung, die Jugend motiviert, um den alten Apparat zu zerschlagen.

Auch Goethe hatte ein Faible für einen Diktator: Napoleon.

Napoleon war ein Selfmademan. Er kam aus dem Nichts und war nur durch Leistung aufgestiegen – ein durch und durch bürgerliches Prinzip. Das faszinierte Goethe. Zurück zu uns: Wir hatten Mitte der 70er in Berlin eine Zeitschrift gegründet, in der wir über die Zeit nachdachten, die da zu Ende gegangen war. Das war eine wichtige Selbstklärung.

Wohin führte die?

Ich befreite mich vom kollektivistischen Wahn und entdeckte meine Liebe für die Biografien. Der Einzelne zählt.

Haben Sie sich mal überlegt, was Goethe wohl machen würde, wenn er heute lebte. Hätte er vielleicht auch eine Fernsehsendung?

Wenn, dann hätte er so ein Format, wo er der Gastgeber ist, vielleicht gelegentlich unterstützt von Schiller.

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