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Polizistin als Krimileserin: „Currywurst ist mein Joker-Gericht“

Sind Kriminalromane realistisch? Birgit Reimann weiß es: Sie kennt den Alltag der Polizei – und Bücher können ihr gar nicht blutig genug sein.

Birgit Reimann, 50, ist Kriminalhauptkommissarin und seit 30 Jahren Polizistin – die Hamburgerin war schon als Kind vom Verkehrserzieher der Polizei fasziniert. Reimann arbeitete im „LKA Kinderpornografie“ und der Krisenintervention. Die Krimileserin hat das Buch „Die Großstadt ist mein Revier“ (Fischer) geschrieben.

Hallo, Sie sind also „Big B“.

Man sieht’s, ja? Bei uns Polizisten haben viele einen Spitznamen.

Ist es von Vorteil in diesem Beruf, als Frau 1,81 groß zu sein?

Nö. Wenn ich zu Besoffenen in eine Kneipe musste, habe ich die langen Haare offen getragen, damit die leichter sehen konnten: Da kommt was Weibliches. So hatte ich nicht so schnell die Faust im Gesicht. Es galt zum Glück die Regel, Frauen schlägt man nicht. Doch bei den Klamotten war ich benachteiligt. Ich bekam Männerhemden, kleine Schulterklappen für Frauen draufgenäht, der Stoff zog sich komisch zusammen. Ein Vorgesetzter maulte: „Können Sie sich nicht anständig anziehen!“ Ich sah wohl etwas albern aus.

Nun sind Sie seit 30 Jahren mit Verbrechen beschäftigt, und in der Freizeit lesen Sie wahnsinnig gerne Krimis. Genügen die Schrecken des Alltags nicht?

Ich lese nicht nur Fiktionales, sondern auch Bücher mit realen Fällen von Autoren wie Tsokos, Petermann oder Türk…

… das sind richtige Gerichtsmediziner oder Profiler. Da lernen Sie was?

Ja, ich will doch verstehen, warum da einer mordet, weshalb er austickt. Nehmen wir eine Geschichte, die ich hautnah mitbekommen habe. Ein Mann fesselt seine Frau und zwei Söhne, er entleert die ganze Waffe, lädt nach, schießt wieder auf sie. Dieses regelrechte Übertöten, woher kommt dieser enorme Hass, diese Gewalt?

Konnten Sie es erklären?

Zumindest nachvollziehen, dabei muss ich es nicht gutheißen. Ich kannte den Mann vom Streifefahren, Diebstahl, Körperverletzung, später kam Rauschgift dazu. Der hatte schon als Kind für seinen Vater klauen müssen. Nie eine feste Bindung zu einer Frau. Dann trifft er eine, die will er haben, sie hat Angst, lässt sich trotzdem darauf ein. Es geht in dieser Beziehung immer um Macht. Er erpresst sie mit den Kindern, sie will sich trennen, er lauert ihr auf, er stalkt sie richtiggehend, ruft in einer Nacht 70 Mal an, er kann auch lieb und nett sein, das genießt sie, sie zeigt ihn an wegen Vergewaltigung, er sitzt ein, bekommt Gnadenerlass. Am Todestag schaut sie sich mit den Kindern eine Wohnung an, um ihn zu verlassen – und er dreht durch.

So viel Blut, dass man Gummistiefel braucht

Die Polizei hätte da vorher nichts machen können?

Heute ginge das, es gibt seit 2002 den Paragrafen 238, unzumutbare „Nachstellung“. Da könnten wir den Mann aus der Wohnung verbannen, er dürfte sich ihr nicht nähern, man geht auch offensiv auf den Gefährder zu und redet mit ihm, zeigt ihm seine Grenzen auf, verweist ihn an eine Hilfsorganisation. Damals durfte der Mann seiner Frau noch ohne Folgen eine Puppe ohne Kopf an die Tür hängen und sagen: So wirst du auch enden!

Als wir einem Buchhändler die Namen Ihrer Lieblingsautoren nannten – von Cady McFadyen bis Karin Slaughter – sagte der: „Echte Schocker, man muss Gummistiefel anziehen, um durchs Blut zu waten.“

Da bin ich hart im Nehmen, von jeder Seite darf Blut tropfen.

Und im wahren Leben?

Kann ich Leichen nicht ertragen – wegen des Geruchs. Erfahrene Kollegen haben mir geraten, du musst sofort zwei kräftige Nasen nehmen, dann stört dich das nicht mehr. Ich konnte mich nie zum tiefen Atemzug überwinden.

Manche tupfen sich Pfefferminzöl unter die Nase.

Hab’ ich probiert, hilft nichts. Der Geruch hängt einem ja auch in den Klamotten, in den Haaren.

Kathy Reichs ist eine von Ihnen geschätzte forensische Anthropologin und Krimiautorin. Sie sagt, am Schlimmsten fände sie Wasserleichen.

Die stinken zusätzlich nach Fisch. Gibt es in Hamburg häufiger, ich bin immer weit weg geblieben und hab’ eine geraucht.

Die Pathologie ist Ihnen nicht erspart geblieben.

Oh je, ich erinner’ mich gut an das erste Mal. Der Arzt fing an, am Bauch zu schneiden, da rutscht ein Arm vom Seziertisch und baumelt herum. Ich hab’ mich fürchterlich erschrocken. Der Tote war trainiert, da sehen Sie unter der Haut eine dünne, knallgelbe Fettschicht, dann kommt schieres Fleisch. Ich bin nach Hause, räumte alle Wurst aus dem Kühlschrank und gab sie meiner Mutter.

Sie lesen nicht nur, Sie gucken auch im Fernsehen Krimis.

Mit Vorliebe den Münsteraner Tatort, weil das so schöner Klamauk ist. Da wird ein Schaf operiert, weil es ein Beweismittel geschluckt hat. Bella Block mag ich als Figur, die ist nicht so geschniegelt. Oder unser Großstadtrevier mit Geschichten rund um die Reeperbahn. Da unterhalten wir uns auch mal als Kollegen drüber, Mensch, das war doch dieser Hinterhof – wie kommen die denn so schnell von hier nach dort?

37 Prozent aller Filme und Serien, die im Fernsehen geschaut werden, fallen ins Genre Krimi. Können Sie sich diesen Erfolg erklären?

Da wird in 45 oder 90 Minuten ein Bösewicht gefangen, und die Welt ist wieder gut. Da guckt ein Profiler den Tatort an und sagt: „Es war ein Weißer zwischen 25 und 35, der ist 1,80, hat Schuhgröße 43 und grüne Augen.“ Hä? Aber bitte, ich schaue oder lese das alles nur zur Unterhaltung.

Das längste Verhör ihrer Karriere

Ihr längstes Verhör?

So vier, fünf Stunden. Eine Frau hatte ihren Mann erstochen – aus Versehen. Sie will das Telefonkabel mit einem Messer durchtrennen, er umfasst sie von hinten, in der Bewegung trifft sie ihn genau ins Herz. Ein Unglücksfall, sie hat das sofort zugegeben. Die Vernehmung hat trotzdem sehr lange gedauert, wir sind ja gehalten, wirklich alle Fakten zu sammeln, um sie vor Gericht zu bringen.

Sie haben eine gute Spürnase, wenn etwas faul ist?

Schön wär’s. Auf dem Streifenwagen lag ich mit größter Sicherheit daneben. Wenn ich gesagt habe, der da vorne ist besoffen, dann war das Auto gestohlen. Wenn ich rief, die Karre ist geklaut, weil sie an der Ampel abgewürgt wurde oder so, dann war der Fahrer zu 100 Prozent besoffen. Ich hab’ da manche halbe Kiste Bier verwettet. Immerhin, Straftaten waren es jedes Mal doch.

Geben Sie es ruhig zu: Es ist ein Vergnügen, mit Tatütata und Blaulicht ein Auto zu verfolgen.

So stellen sich das kleine Kinder vor! Es ist total nervig, weil Sie hochkonzentriert sein müssen, gleichzeitig sollen Sie funken, verstehen aber wegen des Lärms nur die Hälfte, Handytelefonate funktionieren nicht richtig…

… und zur Belohnung gibt’s später eine Currywurst.

Da ist das Fernsehen realistisch: Currywurst ist das Joker-Gericht und jederzeit parat. Man isst bis zur Pensionierung sehr viele Currywürste. Und trinkt noch viel mehr Tassen lauwarmen Kaffee.

Jede Wache hat eine traurige Grünpflanze.

Auf einer Wache mit Wechselschichtdienst fühlt sich keiner verantwortlich. Dort ist Grünzeug zum Sterben verurteilt.

Der originellste Bestechungsversuch?

Wollen wir nicht mal essen gehen? Darf ich Sie ins Theater einladen? Oder es lagen plump Scheine im Ausweis. Dann sagt man, Sie haben hier Geld vergessen, oder, vor den Kollegen: Wollen Sie mich bestechen? Wir sind doch nicht die Schmiere, weil wir uns schmieren lassen.

So nennen Sie sich selbst: Schmiere.

Das hat sich so eingebürgert. Inzwischen sagen wir auch „entglasen“, wenn Scheiben zu Bruch gehen, das haben die Alternativen aufgebracht. Wir machen ja auch Scherze über uns. Was haben Polizei und Schnittlauch gemeinsam? Sie sind grün, innen hohl und treten immer gebündelt auf.

Klassische Situation: Ein Hausmeister schlägt Alarm, im dritten Stock öffnet niemand.

Mit dem ersten Blick checke ich, ob die Post überquillt. In dieser Jahreszeit könnte das heißen, Bewohner sind in Urlaub. Top, beste Situation. Oder wir brechen die Wohnung auf, finden jemanden, der Hilfe braucht, auch top. Ganz schlecht ist es, wenn beim Öffnen vom Briefkastenschlitz in einer Tür zur Begrüßung so eine Wolke von fetten schwarzen Leichenfliegen losbrummt. Oh!!

Schon recht, wir haben unser Eis aufgegessen.

Dann wird der Notarzt gerufen, um den Tod festzustellen. Nur wenn eine Leiche mit dem Leben nicht mehr zu vereinbarende Verletzungen hat, also Kopf ab oder Körper mittendurch, dann darf ich auch als Polizist sagen: Der ist tot. Das ist übrigens das Erste, was ich bei der Mordkommission gelernt habe: Wenn du am Tatort kotzen musst, immer in die Mütze rein! Wegen der Spuren.

Der Mann mit dem Schlachtermesser

Was war ein heikler Moment für Sie?

Ein Mann mit einem Schlachtermesser in der Hand, ich hatte schon die Hand an der Pistole, doch das war in einem Fachwerkhaus mit Flechtwänden, da schlägt leicht eine Kugel durch, also schießen ging nicht. Ich habe gefühlte zwei Stunden auf den eingesabbelt, dann hatte ich das Messer in der Hand. Ruhe bewahren – das kann ich gut. Meine Devise: Das Wort ist die schärfste Waffe eines Polizisten.

Haben Sie mal mit Ihrer P6 geschossen?

Nur auf dem Schießstand, ich übe regelmäßig. Wir hatten mal eine angefahrene Katze, da hingen die Gedärme raus, drumherum standen Kinder und Schaulustige. Bei so einem Publikum können sie dem Tier nicht mit dem Spaten den Kopf abstechen, also habe ich Munition auf dem Boden gerubbelt, so macht man ein Dumdum-Geschoss, vorne kleines Loch, hinten große Wirkung, aber geschossen hat damit mein Kollege.

Mussten Sie sich mal bei jemandem entschuldigen?

Nö. Wenn mich jemand unablässig beschimpft, Idiot, Arschloch, Fotze, Vollpfosten, Nazi-Sau – dann sage ich „Jetzt halt mal die Schnauze“. Soll ich mich dafür entschuldigen? Sehe ich nicht ein.

Ganz unangenehmer Moment?

Wenn ich eine Demonstration von Nazis schützen musste. Ich weiß, die haben das Recht dazu, in Ordnung, aber dabei fühlte ich mich echt beschissen.

Und selbst demonstriert?

Ja sicher. In der Regel für die Gewerkschaft. Einmal war ich bei einer Demonstration im Einsatz, da hatte eine Firma Dioxin in den Boden geleitet. Ich habe mich so über die aufgeregt, dass ich nach der Ablösung in zivil zurückgefahren bin.

Die Polizeireporterin unserer Zeitung hat in Berlin einen 1. Mai beobachtet. Dabei ist eine Freundin von ihr von Polizisten verprügelt worden, drei Rippenbrüche. Sie bekam Schmerzensgeld, keiner der beteiligten Beamten hat geredet.

Diesen Korpsgeist finde ich unselig. Wer das Recht verteidigt, hat es zu beachten. Wer Aggressionen hat, soll den Garten umgraben. Ich vermute, dass sich viele aus Angst nicht äußern.

Der Gruppendruck…

… ist enorm. Inzwischen wäre ich alt genug zu sagen, ihr könnt mich mal! Doch als ich jünger war? Ich kann dieses Verhalten für mich nicht ausschließen.

Deshalb gab es so lange ein Gezerre um die Kennzeichnung von Uniformen oder Helmen. Die Polizisten wollten unerkannt bleiben.

Ich bin dafür, dass Beamte identifiziert werden können. Wer prügelt, gehört nicht in die Polizei.

Als Sie das erste Mal in einer Uniform steckten, hat Sie das gewiss verändert. Sind Sie breitbeiniger gegangen?

Ich war nicht mehr so freundlich. Viel strenger. Bis ein Kollege bei einer Verkehrskontrolle sagte: Du bist so unhöflich. Ich dachte eben, ich bin jetzt die Staatsmacht. Ich muss überkorrekt sein. So ein Quatsch. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich auf Normalmaß war.

Zuletzt haben Sie fünf Jahre lang das Thema Kinderpornografie beackert. Sie sind freiwillig dahin.

Mein Motiv war einfach, ich will Verbrechen bekämpfen. So seltsam das klingt, diese Arbeit hat viel Spaß gebracht. Sie haben schnelle Erfolge.

Warum?

Der Normalfall ist, jemand zieht aus dem Internet Kinderpornos auf seinen Computer, eine Behörde wie das BKA hat mitgeloggt, wir kriegen von der Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss. Man findet einen PC, nimmt Digitalkameras mit und und und.

Die Sprüche der Kollegen

So blöd ist keiner, das alles rumstehen zu lassen.

Doch. Männer sind zum Glück einfach gestrickt. Die beschriften ihre DVDs, dreimal X sind meist die Sexsachen.

Was sind das für Typen?

Das geht querbeet. Der Jüngste war 12, der älteste weit über 80. Wir haben vom Hartz-IV-Empfänger über den Gymnasiasten bis zum Multimillionär alles dabei. Was sich sagen lässt: Viele werden mit der Zeit zu Eigenbrötlern, sie isolieren sich sozial, das Internet ersetzt das.

Sie mussten dann Stunden und Tage im Auswerteraum sitzen und sich alles ansehen. Und durften sich sicher nette Sprüche von Kollegen anhören.

Ja, ja, der Klassiker war: Ich möchte auch mal den ganzen Tag Pornos gucken. Ehrlich, das möchte niemand dauernd sehen. Erwachsenenpornos, Tierpornos, ich kannte, was auf dem Markt war. Bei den DVDs geht das im Schnelldurchlauf, um zu schauen, ob Kinderpornografie dazwischen versteckt ist. Das Perverseste war ein Zusammenschnitt von Minifrequenzen mit Kindern, 10, 20 Sekunden, schwer auszuhalten.

Und dann sind Sie, bei all Ihrer Erfahrung, doch aus den Latschen gekippt.

Ich sah Bilder von einem Säugling, zwei bis drei Monate alt. Sie wollen die Grausamkeiten nicht hören, es war der Gipfel des Sadismus. Und als wir den Täter hatten, kam er mir bekannt vor – ein Sohn von ihm ging mit meinem Sohn zur Schule. Das Ganze ist mir zu nahe gekommen. Mein Zuhause schien mir nicht mehr sicher. Ich hörte nachts den Ton, den der Täter auf die Filme gesprochen hat. Da war mir klar: Ich muss da raus! Ich machte eine Therapie und habe in den ersten Sitzungen nur geheult.

Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?

Sicherlich. Das will und darf ich nie verlieren. Das wäre ja furchtbar.

Frau Reimann, als wir Sie vorhin am Bahnhof Harburg trafen, saßen Sie auf einer Bank und haben ein Buch in die Tasche gesteckt.

Das ist von Val McDermid und heißt „Vatermord“. Eine Polizistin ermittelt mit einem Profiler zusammen, es geht um verstümmelte Teenager. Die Ermittler nutzen soziale Netzwerke. Sehr spannend.

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