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Psychiater Allen Frances: „Die Pille ist nicht dein Freund!“

Das Kind ist unruhig? ADHS! Ein Witwer trauert? Depression! Allen Frances warnt vor zu schnellen Urteilen – und rät zu Sport und Geduld.

Allen Frances, 71, ist Psychiater in den USA. Er wurde bekannt durch sein Mitwirken am DSM-4, der vierten Version des „Handbuch zur Klassifizierung psychischer Störungen“ – und für seine Kritik an dessen Nachfolger DSM-5. Darüber schrieb er das Buch „Normal – gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“

Herr Frances, in Deutschland ist die Diagnose „Burn-out“ sehr verbreitet. Sagt Ihnen das etwas?

Ich habe davon nur gehört. Was beschreibt das Wort? Ich denke, es geht um Stress. Doch wir leben in den einfachsten Zeiten, die es je gab!

„Burn-out“ steht bei uns für chronische Erschöpfung. Trotz der einfachen Zeiten ist das Leben ja vielleicht trotzdem nur vermeintlich sorgenfrei.

Ja, wir sorgen uns um vergleichsweise kleine Probleme und geraten darüber in Stress. Und dann löst der Stress neuen Stress aus, muss einen Namen bekommen, medikamentiert werden, und dann muss eine Pille her, die die Lösung sein soll. Manchmal glaube ich, das ist alles Propaganda.

Ein Werkzeug dieser Propaganda wäre dann auch das „Handbuch zur Klassifizierung psychischer Störungen“, an dem Sie mehrere Jahre lang maßgeblich beteiligt waren. Die aktuelle Version, DSM-5 genannt, gilt seit kurzem. Sie haben an der Neuauflage nicht mehr mitgewirkt und warnen sogar davor. Warum?

Weil es zu einer Hyperinflation psychiatrischer Diagnosen führen wird. Es beschleunigt eine ohnehin schon falsche Entwicklung. Es gibt bereits jetzt eine Inflation dieser Diagnosen – wir haben es mit Überbehandlung zu tun. Jetzt schon! Das ist schlimm genug.

Andererseits gibt es auch Patienten, die vom Arzt regelrecht eine Diagnose fordern.

Ja, die Menschen gehen zum Arzt, und wenn der ihnen nichts verschreibt, sind sie enttäuscht. Der Arzt denkt: Wir sitzen hier jetzt schon zehn Minuten, ich muss ihm etwas geben, sonst ist er nicht zufrieden. Das ist genau der falsche Weg. Wir müssen Ärzte dahingehend schulen, dass die meisten Patienten besser ohne Pillen auskommen. Die Patienten müssen lernen, dass sie über die Kraft und die Ressourcen verfügen, ohne Medikamente aus ihrer Krise zu kommen – und dass die Tabletten, die sie für ihre vergleichsweise kleinen Störungen bekommen, alle immer auch Nebenwirkungen haben. Die Pille ist nicht dein Freund! Bei kurzfristigen leichten Problemen ist vielmehr die Zeit dein Freund. Die Familie ist dein Freund. Deine Freunde sind dein Freund. Die Pille wird im Zweifel am Ende mehr Probleme schaffen, als sie löst.

Vielleicht haben die Menschen wenig Zeit und keine Freunde?

Ach, ich weiß nicht. Die Menschen wollten schon immer Medizin, schon vor Hunderten von Jahren, auch wenn die meisten Medikamente wirkungslos waren. Es gibt diese magische Sehnsucht in Menschen nach einer Pille, die ihre Probleme löst.

Sie sind jahrzehntelang als Psychiater tätig gewesen. Wie gehen Sie mit dieser Sehnsucht um?

Wenn jemand eine klare, ernsthafte psychische Störung hat, gebe ich ihm die Pillen am ersten Tag. Allen anderen sage ich: Wir nehmen uns Zeit, arbeiten zusammen und schauen, was wird. Dann rate ich allen, sich zu bewegen.

Sich bewegen? Meinen Sie Sport?

Alles, was man tun kann. Bewegung ist wundervoll. Es geht darum, mehr gute Minuten in deinem Tag zu finden. Das ist nicht ganz einfach. Aber suche sie, und wenn du sie findest, versuche, sie zu verlängern.

Wenn nun einer vor Ihnen sitzt, total depressiv, und morgen hat er einen wichtigen Geschäftstermin, von dem Existenzen abhängen – würden Sie dem nichts verschreiben?

Doch, wenn er es braucht. Aber viel wahrscheinlicher würde ich ihm sagen: Sie haben so etwas schon mal geschafft, ich vertraue darauf, dass das noch mal gelingt. Wir müssen den Menschen beibringen, sich auf sich selbst zu verlassen.

Und wenn er dann Ihre Praxis verlässt und zum nächsten Arzt geht?

Die meisten bleiben. Ich erkläre ihnen, dass ich Erfahrungen mit Hunderten von Menschen gemacht habe, die Ähnliches durchgemacht haben. Die dachten, sie können es nicht, und dann konnten sie es doch. Nicht jedes Problem im Leben ist eine seelische Störung.

Wie kann man denn wissen, ob man nur ein Problem hat oder eine ernsthafte Störung?

Wer sich diese Frage stellen kann, der hat wahrscheinlich keine Störung. Das Problem ist eher, dass Menschen, die wirklich Hilfe brauchen würden, nicht danach fragen. Sie sind zu krank. Aber die Antwort auf beispielsweise Arbeitslosigkeit kann nicht eine Pille sein.

Mit Blick auf die Hyperinflation von Diagnosen: Wie viele Krankheiten listet das Handbuch auf?

Die Anzahl der Krankheiten spielt keine Rolle. Es geht um die Anzahl der Menschen, die damit angesprochen werden: Sie können eine einzige Krankheit neu hinzufügen und damit zehn Millionen Kranke produzieren.

Welche ist die überflüssigste Diagnose?

Es gibt eine Diagnose, die viel Gegenwehr erzeugt – das versteht auch jeder, außer den paar Leuten, die sie vorgeschlagen haben: Sie verwandelt Trauer in eine schwere depressive Störung. Haben Sie das Zeug gelesen?

Ja. Es heißt dort sinngemäß, dass man nach zwei Wochen Trauer besser ein Medikament nimmt.

Früher trauerte man ein Jahr, dann waren noch zwei Monate in Ordnung. Und jetzt – zwei Wochen. Das ergibt überhaupt keinen Sinn.

Was also geht in den DSM-5-Autoren vor?

Es sind nette, kluge Leute, und sie meinen es gut. Sie befürchten, dass beispielsweise bei Trauernden Depressionen übersehen werden könnten. Sie sagen: Wir können Trauer von einer Depression unterscheiden. Das stimmt sicher auch. Doch in den USA werden 80 Prozent der Verschreibungen von Allgemeinmedizinern vorgenommen.

Die können das nicht?

Genau. So wird diese Diagnose den niedrigstmöglichen Effekt bei größtmöglichem Schaden haben.

Trotzdem wird das neue DSM-5-Handbuch dieser Diagnose vermutlich den Weg bereiten. Wie kam es überhaupt zu der Neuauflage?

Das Buch wurde im Auftrag der „American Psychiatric Association“ von spezialisierten Fachleuten geschrieben, die einen sehr engen Blick auf die Dinge haben. Aber psychiatrische Diagnosen erfordern einen weiten Blick und sind viel zu wichtig, um sie solchen Experten zu überlassen. Außerdem wollten die DSM-Autoren, das war ihr erklärter Anspruch, einen Paradigmenwechsel. Die Mitarbeiter waren angehalten, innovativ zu sein.

Das ist falsch?

Psychiatrische Diagnosen ändern sich zu schnell und greifen zu weit. Die Autoren waren zu ehrgeizig. Sie wollen eine präventive Psychiatrie einführen. Nach dem Motto: Handle früh, verhindere den Krankheitsausbruch, verhindere Leiden.

Klingt doch toll.

Ja, es ist eine tolle Idee. Leider sind psychiatrische Krankheiten aber sehr schlecht vorhersagbar. Besonders bei Kindern. Und wie würde man im Vorfeld behandeln? Menschen bekämen am Ende Pillen, bevor sie sie wirklich brauchen.

Neben dem DSM und dem Arzt, der ein Medikament verschreibt, ist da auch immer noch der Patient, beispielsweise der Trauernde. Glauben Sie, er wird die Pillen ernsthaft einnehmen?

Oh, ich hoffe nicht. Er sollte aber in jedem Fall darüber Bescheid wissen, was sich geändert hat, was da vor sich geht. Vielleicht ist das einzig Gute am DSM-5, dass es jetzt diese Aufregung gibt. Das könnte nicht nur zur Ablehnung der DSM-Vorschläge, sondern auch zu einem Umdenken führen: weg von den schnellen Diagnosen, weg von den exzessiv verschriebenen Medikamenten.

Werden Diagnosen generell zu schnell erstellt?

Diagnosen sind jedenfalls eine schwierige Sache. Die kann man nicht in zehn oder 45 Minuten oder während einer Therapiesitzung erledigen. Man sollte dabei auch daran denken, dass so eine Diagnose oft ein Leben lang hält. Das ist wie eine Heirat oder ein Hausbau. Die bleibt. Wie auch die Medikamente. Manche Menschen nehmen die ein Leben lang. Wenn man mit der Diagnose vier oder sechs Wochen wartet, hat die Person oft selbst eine Lösung gefunden. Dann war da gar nichts. Das Problem in Amerika ist, dass wir die falschen Leute behandeln.

Die ohne Befund und nicht die mit Befund?

Richtig. Um die kümmern wir uns zu wenig. In unseren Gefängnissen sitzen beispielsweise Millionen psychisch Kranker. Psychiatrische Behandlung ist extrem hilfreich für die fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, die sie brauchen. Aber die Urteile darüber wurden den Psychiatern aus den Händen genommen, und nun werden zu viele Menschen als psychisch Kranke behandelt, die keine sind. Ich hoffe, der Streit um DSM-5 macht die Menschen etwas sensibler.

Sie haben als Chefredakteur am DSM-5-Vorgänger entscheidend mitgewirkt. Das DSM-4 hat eine Diagnose sehr populär gemacht: ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.

Ja, wir haben damals, es war 1994, eine kleine Änderung an der bereits bestehenden Diagnose ...

Die war schon vorher da?

... ja, es gab sie schon – für Jungs. Wir haben sie erweitert um Mädchen. Wir erwarteten einen Zuwachs um 15 Prozent an Diagnosen. Statt dessen haben die sich verdreifacht.

Wie das?

Das lag nicht an unserer Veränderung. Es gab zwei andere Gründe. 1997 kamen die Pharmafirmen mit patentierten, teuren Medikamenten auf den Markt, an denen sie gut verdienten. So hatten sie Geld für gigantische Werbekampagnen, die sich an Ärzte richteten. Dann setzten sie in Washington durch, dass sie direkt beim Kunden für ihre Psychopharmaka werben durften. So wurden Fernsehen, Internet und alle Magazine mit Informationen zu ADHS befüllt. Sie riefen Lehrer und Eltern dazu auf, Ärzte nach ADHS-Medikamenten zu fragen.

Haben Sie, als sie diese Werbespots im Fernsehen sahen, nicht gedacht: Oh Gott, das waren wir?

Ich habe gedacht: Oh Gott, guck dir das an, was da passiert!

Sie haben sich also nichts vorzuwerfen?

Die ADHS-Änderungen waren kein Fehler. Wir haben damals aber auch zwei Diagnosen neu hinzugefügt: die bipolare Störung und das Asperger-Syndrom, das ist eine milde Form von Autismus. Heute ist in den USA jedes 80. Kind als Autist diagnostiziert, in Südkorea sogar jedes 38. Kind. Viele Eltern sind damals in Panik geraten. Dann kam etwas anderes hinzu: Kinder mit dem Syndrom wurden in kleineren Schulklassen mit besserer Betreuung unterrichtet. Als sich das herumsprach, wollten immer mehr Eltern die Diagnose für ihr Kind, um an den besseren Unterricht zu kommen, und so wurden viel zu viele Kinder falsch diagnostiziert. Stattdessen sollte man die Schulen in Amerika insgesamt besser machen, mit kleineren Klassen und mehr Sportunterricht. Das wäre auch die beste Prävention gegen ADHS-Symptome.

Kennen Sie Kinder in Ihrem Umfeld, die mit ADHS diagnostiziert sind?

Nein, wir machen manchmal Witze mit meinen Enkeln: Wenn du nicht machst, was ich will, bekommst du die ADHS-Diagnose.

ADHS ist auch in Deutschland verbreitet.

Ja, davon habe ich gehört. Es ist ein Skandal. Kinder zu diagnostizieren ist sehr schwierig, weil sie in ihren Ausdrucksmöglichkeiten noch sehr beschränkt sind. So kam es zu regelrechten Epidemien in der Kinderpsychiatrie: ADHS, Asperger, Bipolarität. Und das DSM-5 fügt dem eine neue Diagnose hinzu, die auf wahrscheinlich fast alle Kinder anzuwenden ist: die „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“, kurz DMDD. Sie macht aus Wutanfällen eine psychische Störung. Aber das geht nicht. Genauso wenig akzeptabel ist, dass ich für krank erklärt werde, weil ich immer mehr vergesse.

Wenn es nun eine Pille gäbe, die Ihre Vergesslichkeit beenden würde, würden Sie die nehmen?

Oh ja, ich bin ein pragmatischer Mensch. Wenn sie wirken würde, würde ich sie nehmen. Aber es gibt sie nicht. Wir stehen heute vor der Unterscheidung: Wer leidet unter einer pathologischen Vergesslichkeit, und wer ist nur alt? Es mag für Forscher interessant sein, den Unterschied zu definieren, und vielleicht entwickelt jemand einen biologischen Test. Das wird noch Jahre dauern.

Wenn die Vergesslichkeit zur Krankheit erklärt ist, wird sie nicht mehr als normal akzeptiert. Dann muss sie geheilt werden?

Es gab kürzlich an meinem Institut eine Studie, in der Zwölf- bis 21-Jährige gründlich untersucht wurden. 83 Prozent hatten eine Störung. Das zeigt, wie lächerlich das System ist. Anders gesagt: Je mehr man testet, desto mehr Menschen haben am Ende eine Störung, weil man immer mehr Abweichungen feststellt – aber nicht jede Abweichung ist eine Störung!

In die Reihe der inflationär gebrauchten Diagnosen reihen Sie auch PTBS ein, die posttraumatische Belastungsstörung, die bei Kriegsveteranen ein großes Thema ist.

Ja. Wäre es da nicht oft besser zu sagen, dass viele Soldaten nach der Rückkehr aus dem Einsatz Probleme haben, in den Alltag zurückzufinden? Warum verschafft denen keiner eine gute Arbeit? Stattdessen werden sie mit PTBS gebrandmarkt. Wir sehen auch hier eine Problemlage zuerst als medizinische Angelegenheit und verlieren dabei das Soziale aus dem Blick.

Sie raten den Veteranen also ernsthaft: „Hey, los, geht arbeiten statt herumzuleiden!“ Das ist wohl keine sehr populäre Meinung, oder?

Moment, wenn sie krank sind, sollen sie natürlich Hilfe bekommen. Ich meine damit: Fixiert euch nicht von vornherein auf die Diagnose! Wenn einer arbeitslos ist und deswegen depressiv wird, braucht der Mensch erst mal eine Arbeit.

Sagt diese Art des Umgangs mit gesellschaftlichen Probleme etwas über die Gesellschaften aus?

Soziale Probleme sind soziale Probleme, Bildungsprobleme sind Bildungsprobleme. Wenn mit dem DSM daraus medizinische wurden, heißt das: Das Buch wird außerhalb seiner Zuständigkeit benutzt. In den USA werden gerade für 250 Millionen US-Dollar Lehrer ausgebildet, damit sie erkennen können, welches Kind eine psychische Störung haben könnte. Da werden am Ende viele, viele Kinder fehldiagnostiziert sein. Es kommt mir vor wie ein Massenexperiment.

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