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Jennifer Egan hat bisher fünf Romane veröffentlicht, der letzte war „Manhattan Beach“.

© Pieter M. Van Hattem

Pulitzer-Preis-Trägerin Jennifer Egan: „Unsicherheit mündet in bessere Arbeit“

Sie schreibt Bestseller und stürzt sich durch ihre Texte wie eine Blinde: Jennifer Egan über Drogenangst und die Vorteile von Schreibschrift und Emojis.

Jennifer Egan schreibt über Rockmusiker, Internet-Nerds und Werftarbeiterinnen. Ihre Bücher wie "Manhattan Beach" über eine Brooklyner Werft im Zweiten Weltkrieg verkaufen sich weltweit, der Vorgänger "Der größere Teil der Welt" brachte ihr 2011 sogar den begehrten Pulitzer-Preis ein. Die 56-jährige New Yorkerin ist seit 2018 Vorsitzende des PEN America. Im Interview spricht sie über ihre Drogenangst als Jugendliche, Redigage während der Wehen und das lästige Pfeifen von Bauarbeitern.

Mrs. Egan, Sie gehören zu den anerkanntesten Schriftstellerinnen der USA. Wie entsteht bei Ihnen ein Roman?
Meine ersten Einfälle klingen furchtbar. Ich schreibe sie mit der Hand in ein Notizbuch, habe keinen Plan, sondern stürze mich wie eine Blinde vorwärts. Meine Handschrift ist schwer zu entziffern, ich konzentriere mich nicht auf die Sätze, lese sie mir erst wieder durch, wenn ich sie Wochen später abtippe.

Warum ersparen Sie sich den Arbeitsschritt nicht und setzen sich gleich an den Computer?
Wenn ich etwas gedruckt auf dem Bildschirm vor mir sehe, achte ich nur auf die Schwächen des Geschriebenen. Das lenkt mich zu sehr davon ab, in einen Groove zu kommen.

Das Schreiben mit der Hand ...
... ist eine Kunst, die ausstirbt. Meine Kinder können es nicht mehr. Ich frage mich manchmal, ob ich an Romanen arbeiten könnte, wenn ich die Schreibschrift nicht beherrschen würde. Bei mir im Kopf bedingen beide Sachen einander.

Verschicken Sie gern Postkarten aus dem Urlaub?
Nein, höchstens Textnachrichten mit viel zu vielen Ausrufezeichen. Oder Nachrichten voller Emojis an meinen Mann. Er kann sie inzwischen entschlüsseln, fragt sich jedoch: Wozu der Aufwand?

Schreiben Sie, um nicht ständig Sie selbst zu sein?
Das ist sogar mein Hauptgrund. Für mich erfüllt es das menschliche Grundbedürfnis nach Transzendenz. Ich lasse alles hinter mir, was ich kenne, und betrete ein neues Land.

Sogar als Sie in den Wehen lagen, haben Sie geschrieben. Kamen dabei gute Sätze heraus?
Zu meiner Verteidigung: Ich habe nur redigiert. Das war für meinen zweiten Roman „Look at Me“, der 2001 erschien. Die Änderungen waren gar nicht schlecht, wie ich später festgestellt habe.

Hatten Sie keine anderen Prioritäten?
Na ja, ich wollte dieses Buch endlich fertigkriegen. Ich saß zu Hause in Brooklyn, schrieb, während die Wehen kamen. Die Abstände wurden kürzer, ich dachte, hm, ich sollte jetzt wohl meinen Mann anrufen, und machte weiter. Mein Mann ist normalerweise sehr ruhig. Als er nach Hause kam, kreiste er wie wild in der Wohnung herum. Ich guckte mir das an: Er rennt, das ist nicht gut. Wir haben es gerade so ins Krankenhaus geschafft.

Imre Kertész schrieb in sein Tagebuch: „Eheleben und Schreiben: ein Paradebeispiel für zwei nicht miteinander zu vereinbarende Lebensformen.“
Mein Mann und ich sind 30 Jahre zusammen. Er hat einen Beruf, der meinen perfekt ergänzt: Theaterregisseur. Seine Arbeit ist gemeinschaftlich, meine einsam. Wenn ich ihn wirklich ärgern will, sage ich ihm, dass ich ein Stück schreibe, das er produzieren soll. Solange ich das nicht in die Tat umsetze, geht es uns gut.

Zum Schreiben sind Sie über Umwege gelangt, eigentlich wollten Sie Archäologin werden.
Ich hatte sogar schon einen Studienplatz an der University of Pennsylvania. Um Erfahrungen zu sammeln, arbeitete ich vorher an einer Ausgrabungsstelle mit. Ich hatte die Vorstellung, dass ich in Griechenland oder Afrika verschwundene Kulturen entdecken würde, dann landete ich in Illinois, hockte stundenlang in der Sonne und musste einen Quadratmeter Erde durchsieben. Statt nach gut erhaltenen Amphoren suchte ich nach Keramikscherben und Pfeilspitzen von Indianerstämmen am Mississippi. Nach drei Wochen beschloss ich, das ist nicht mein Ding. Ich ging zurück nach Kalifornien, arbeitete als Kellnerin in einem Café und kaufte mir von dem angesparten Geld ein Flugticket nach Europa.

Diese Backpackerreise im Frühling 1981 verwandelte Sie in eine Autorin, haben Sie gesagt. Wieso?
Auf der Reise habe ich mich endgültig entschieden, mit Schreiben mein Leben zu verbringen. Ich führte Tagebuch, schrieb alles auf, was mich an der Welt dort draußen erstaunte. England, Amsterdam, Paris, Rom. Als ich in London ankam, konnte ich nicht fassen, dass die Menschen wirklich mit diesem britischen Akzent sprachen.

Ein bisschen naiv.
Das kannte ich nur aus Filmen. Allerdings begann ich zur selben Zeit, Panikattacken zu bekommen. Zuerst dachte ich, ich hätte einen dieser Drogen- Flashbacks. In der Highschool habe ich ein paar Mal Halluzinogene genommen, und wir haben damals alle das Buch „Fragt mal Alice“ gelesen …

… die fiktionalisierten Erfahrungen eines Mädchens, das in die Drogenabhängigkeit abrutscht …
… doch wir glaubten, es sei eine wahre Geschichte. In Europa dachte ich, Mist, ich erlebe die Spätfolgen und drehe jetzt völlig durch wie diese Alice. In dieser Zeit begriff ich, dass Schreiben für mich wichtig ist, um mir Halt zu geben.

Das Tagebuch als Form der Selbstmedikation?
Ich verstand, dass mich Schreiben glücklicher machte. Wurde es deshalb zu einer Behandlungsform? Ich würde eher den Vergleich mit einer spirituellen Praxis benutzen. Wenn ich nicht schreibe, habe ich bis heute das Gefühl, dass mir etwas Grundsätzliches fehlt.

Salman Rushdie hat einmal gesagt, das Leben eines Schriftstellers ähnele einem umgekehrten faustischen Pakt. Man strebt nach Ruhm und Unsterblichkeit und bezahlt dafür mit einem miesen Leben.
Na ja, das hängt davon ab, wie man mies definiert. Es ist sicher unwahrscheinlich, dass man mit Schreiben reich wird, aber das sind Dinge, über die ich mir nicht den Kopf zerbreche. Wenn ich arbeite, konzentriere ich mich bis zur Kurzsichtigkeit darauf, mein Buch zu verbessern.

Trotzdem haben Sie schon mal überlegt, Ihre Arbeit aufzugeben und Polizistin zu werden.
Das war in den 90er Jahren, als ich in New York lebte, zwar bereits Geschichten schrieb, aber einen Job brauchte, der mich finanziell über Wasser hielt. Warum nicht Polizistin? Ich dachte, ich könnte somit viel über Menschen und ihre Motive lernen. Einmal bin ich sogar auf einer Patrouille mitgewesen. Wir fuhren in ein Viertel, in dem es viel Drogenkriminalität gab. Ich erinnere mich, dass wir mit dem Polizeiwagen rasten. Und als wir mit dem Auto vor einem Sozialbau anhielten, hörte ich die Menschen rufen: 5-0, 5-0! Den Code für die Polizei – und sofort verschwanden alle.

Für Ihren vorletzten Roman, „Der größere Teil der Welt“, erhielten Sie 2011 den Pulitzer-Preis, dotiert mit 10 000 Dollar.
Ich fühlte mich, als würde ich in einem unglaublich schicken Wagen durch die Straßen fahren und jeder Passant würde über das Auto staunen. Und ich begriff, es geht um die Limousine, nicht um meine Person.

Hat Sie der Preis gestört?
Er war ein Segen, machen Sie Witze? Aber ich war auch mal Preisrichterin bei den National Book Awards, daher weiß ich, dass auch Glück eine Rolle spielt. Du bist die Kandidatin, auf die sich die Jury dieses Jahr geeinigt hat.

Sie glauben nicht an Ihr Talent?
Ich habe eine Veranlagung zu Selbstzweifeln. Unsicherheit mündet in bessere Arbeit, das denke ich ganz gewiss. Bei Männern äußert sich diese Seite manchmal in einem schockierenden Egoismus, der alle anderen Facetten übertüncht. Frauen sind zu sehr bereit, diese Zweifel öffentlich auszutragen. Das ist für unser Geschlecht kulturell akzeptierter.

"Es war, als würde ich gegen eine Mauer anreden"

Jennifer Egan hat bisher fünf Romane veröffentlicht, der letzte war „Manhattan Beach“.
Jennifer Egan hat bisher fünf Romane veröffentlicht, der letzte war „Manhattan Beach“.

© Pieter M. Van Hattem

Im aktuellen Roman „Manhattan Beach“ geht es um eine Frau, die genau das nicht mitmacht. Während des Zweiten Weltkriegs behauptet sie sich in einer von Männern dominierten Welt.
Obwohl ich zunächst nur eine Geschichte über die Kriegszeit in New York erzählen wollte. Erst als ich über die Brooklyn Naval Yard las, die größte Reparaturwerft der Alliierten, und über die Arbeiterinnen dort, wusste ich: Ich habe meinen Stoff gefunden. Das hat wirklich Spaß gemacht.

Sie haben zehn Jahre an dem Roman gesessen. Das nennen Sie Spaß?
Ich fühlte mich zuerst gehandicapt. Normalerweise schreibe ich über Erinnerungen an bestimmte Zeiten, die ich miterlebt habe – die Punkrockszene in San Francisco der späten 70er Jahre, den Beginn des Internets im New York Mitte der 90er Jahre. Mit diesem Roman hatte ich nichts, woran ich anknüpfen konnte. Erst als ich bei einem Oral-History-Projekt anfing und Frauen befragte, die in den 40er Jahren in der Werft gearbeitet haben, löste sich der Knoten.

Wir reden von einer Ära, in der Frauen eigentlich an den Herd verbannt waren. Haben die Zeitzeugen auch über sexuelle Belästigung gesprochen?
Keine der Interviewten wollte auch nur ein negatives Wort über die Zeit sagen. Lag vielleicht daran, dass ich mit einem offiziellen Auftrag für das Projekt kam, mit Mikrofon und technischem Zubehör. Ich hörte nur Sätze wie: Oh, die Männer waren immer so nett zu uns. Insgeheim dachte ich, kommt schon, wir reden von einer Zeit, in der es Frauen zwei Jahre lang nicht gestattet war, auf Schiffe zu gehen, weil man befürchtete, die Männer würden verrückt werden.

Die Frauen übernahmen damals die Arbeit der Männer, weil diese an die Front mussten.
Am ersten Tag, als die Frauen ihre Stellen antraten, besuchten Reporter die Werft. Einige Arbeiter schrien die Frauen an: Geht zurück in eure Küchen! Es gab eine unglaubliche Unsicherheit seitens der Männer, die als 4F eingestuft wurden.

Als nicht zum Wehrdienst tauglich.
Daraus erklärte sich ihre Feindseligkeit gegenüber den Frauen. Sie fühlten sich an den Rand des Geschehens gedrängt. Ganz bestimmt kam es zu sexuellen Belästigungen. Ich traf einmal eine Frau, die eine Bemerkung fallen ließ, dass auf einer Silvesterfeier etwas Schlimmes passiert war. Ich wollte herausfinden, wovon sie redete, baute ihr Brücken, doch selbst mit 80 Jahren rückte sie nicht damit raus. Es war, als würde ich gegen eine Mauer anreden.

Nach dem Krieg mussten die Frauen ihre Jobs wieder an die Männer abtreten.
Ich habe Ida Pollack kennengelernt, eine energische alte Dame, die als Schweißerin in der Werft gearbeitet hatte. Eine zierliche Person, deren Fähigkeiten gebraucht wurden, als Frauen später doch auf die Schiffe durften. Sie quetschte sich in die Ecken, an die Männer nicht herankamen. Am Ende des Krieges wurde sie einfach rausgeworfen. Die Männer lachten sie aus, weil sie den Job behalten wollte, für den sie ein Jahr zuvor noch gelobt worden war. Jedes Mal, wenn sie nach dem Krieg über eine Brücke fuhr, betrachtete sie die Schweißnähte und dachte, schlechte Arbeit, das kann ich besser. Für sie müssen sich diese zwei, drei Jahre in der Werft wie ein wahr gewordener Traum angefühlt haben. Wissen Sie, ich glaube, die Explosion der Wut in den 60er Jahren hat mit dieser Ablehnung etwas zu tun.

Sie sprechen von den Bürgerrechtlern und Hippies.
Die Forderung nach Gleichberechtigung hatte ihre Wurzel in den 40er Jahren, als Frauen die Arbeit von Männern machten. Sie flirteten mit der Möglichkeit eines anderen Lebens. Erst ihre Kinder artikulierten diesen Wunsch nach mehr Freiheit, sie ließen diese angestaute Wut ihrer Mütter heraus.

50 Jahre später haben Frauen noch mit Vorurteilen zu kämpfen. In Amerika stehen kaum Politikerinnen an der Spitze von Parteien.
Es war furchtbar mitanzusehen, was mit Hillary Clinton im Wahlkampf passierte. Purer Sexismus hat sie zu Fall gebracht. Ich habe das Gefühl, er ist akzeptierter als Rassismus.

Man hat ihr Korruption vorgeworfen.
Und dann wen gewählt? Es fühlt sich doch an, als würde man einem Gangster im Weißen Haus zusehen. Ich glaube, dahinter steckt eine tief sitzende Furcht der Amerikaner vor einer Frau an der Macht. Europäer haben in den vergangenen Jahrhunderten bereits Königinnen erlebt. Dass eine Frau die Geschicke einer Nation leitet, ist für sie normal. Es existiert eine kollektive Erinnerung daran, in Amerika nicht. Ich habe keine Ahnung, wer in der Lage ist, diesen Spießrutenlauf über sich ergehen zu lassen, um das zu ändern.

Könnte es bald geschehen?
Wenn, dann hätte eine schwarze Frau mehr Chancen. So eine Kandidatin würde größere Immunität genießen. Die Gegner müssten ihre Kritik vorsichtiger dosieren, um nicht rassistisch zu klingen.

Sie sagen, Sexismus ist akzeptierter als Rassismus. Die ganze Welt redet doch über #MeToo. Hat sich im Alltag dadurch nichts geändert?
Für eine 56-jährige Frau ist das schwer einzuordnen. Das kann man nur beantworten, wenn man betroffen ist. Ich bin jedenfalls froh, dass ich inzwischen an einer Baustelle vorbeigehen kann, ohne dass mir fünf Männer etwas hinterherrufen oder nachpfeifen. Das empfand ich als sehr erniedrigend. Ich bin dann lieber einen anderen Block gegangen oder habe die Straße überquert.

Die Verteidigung der Männer: Hey, wir meinen es als Kompliment.
Das können sie gern glauben, aber um die Frau geht es nicht dabei, sondern um die anderen Männer. Man prahlt voreinander mit seiner Männlichkeit. In dieser Gleichung ist die Frau irrelevant – ein Katalysator für das Verhalten der Bauarbeiter.

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