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Glitter and be gay. Bei Barrie Kosky an der Komischen Oper wird die Sinnlichkeit gefeiert, wie hier in „Ball im Savoy“.

© Iko Freese/ drama-berlin.de

„Casta Diva“: Der erste schwule Opernführer

Mit „Casta Diva“ erscheint endlich ein schwuler Opernführer. Dabei gehören Homosexuelle schon immer zur Stammklientel des Genres. Das Buch könnte zum Standardwerk werden.

Dieses Buch kommt mit 400 Jahren Verspätung. Denn schließlich gehören schwule Männer seit der Erfindung des Musiktheaters zum Stammpublikum der Kunstgattung, wie Sven Limbeck und Rainer Falk in ihrer Einführung zum „Casta Diva“-Opernführer schreiben.

Für viele Homosexuelle, die sich mit Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert sahen, die ihren Gefühlen nur im Verborgenen freien Lauf lassen konnten, wurde die Welt des Musiktheaters zum Schutzraum. „Das Theater ist ein realer Ort, der einerseits soziale Zugehörigkeit ermöglicht und andererseits im Spiel auf der Bühne ,Anderswelt' erzeugt“, schreiben die Herausgeber. „Hinter dem Vorhang öffnet sich ein Raum, in dem die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft nicht gelten.“

Grell-selbstironischer Fuchsia-Einband

Dort trägt man gerne Masken, dort wird mit Geschlechteridentitäten gespielt, Frauen ziehen Männerkleider an – die so genannten Hosenrollen waren vor allem im Barock beliebt –, manchmal verkleiden sie die Herren auch als Damen. Kastraten singen mit scheinbar weiblichen Stimmen, die Spitzentöne der Tenöre erinnern an Schreie der Lust, viele Werke entführen zudem in exotische Länder, wo faszinierend fremdartige Regeln des Miteinanders gelten: „Oper rehabilitiert das Widernatürliche, indem sie es zu Kunst macht.“

Sven Limbeck und Rainer Falk haben ihr Buch nach der berühmten Arie aus Bellinis „Norma“ genannt. „Casta Diva“ ist eine Parade-Nummer für jenen extraterrestrischen Primadonnen-Typus, den die homosexuelle Fangemeinde besonders verehrt. Mit seinem Einband in Kunstsamt-Haptik, die zudem noch in einem neongrellen Fuchsia-Ton daherkommt, outet sich der Opernführer selbstironisch als schwul.

Wer den schwergewichtigen 700-Seiten-Band aber durchblättert, stellt fest, dass es sich hier nicht um ein zielgruppenorientiertes Unterhaltungs-Produkt handelt, sondern um eine höchst seriöse Publikation von geradezu musikwissenschaftlichem Anspruch.

Potenzial zum Standardwerk

Tiefgehender, ausführlicher als in den meisten Nachschlagewerken zum gängigen Musiktheater-Repertoire werden die 157 Werke von 31 verschiedenen Autorinnen und Autoren dargestellt. Es gibt biografische Texte zu jedem der 92 Komponisten, ausführliche Zusammenfassung der Handlungen, Hinweise zu Einspielungen sowie zu weiterführender Literatur. Mit einem Wort: Dieses Opernbuch hat das Potenzial, zum Standardwerk zu werden.

[„Casta Diva“ ist im Berliner Quer Verlag erschienen und kostet 50 Euro. Am Sonntag um 15 Uhr wird das Buch in der Komischen Oper vorgestellt (Eintritt frei).]

Lediglich im Analyse-Teil geht es auch um Aspekte, die im betreffenden Stück für Schwule besonders interessant sein könnten. Bernd Feuchtner identifiziert in seinem Beitrag zu Verdis „Don Carlo“ beispielsweise gleich drei mögliche Identifikationsfiguren: nämlich Rodrigo, Carlos’ Busenfreud, die Prinzessin Eboli, für die der Geliebte unerreichbar bleibt, und erstaunlicherweise auch die beiden Bösewichte, König Philip sowie den Großinquisitor. Über das große Duett der Bässe schreibt er: „Dieser verbale Zweikampf der starken Männer hat etwas zutiefst Erotisches.“

Witzig ist der Ansatz von Rainer Falk bei Richard Strauss’ „Ariadne auf Naxos“. Die in ihrer Treue todtraurige Titelheldin einerseits und die promiske Zerbinetta andererseits vergleicht er mit den zwei Stereotypen homosexueller Männer, die in der Szene drama queen und Schlampe genannt werden.

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Falk berichtet aber auch davon, dass der „Vollblut-Hetero“ Strauss Schwierigkeiten mit dem Libretto des „sein Leben lang mit den eigenen homoerotischen Neigungen hadernden“ Hugo von Hofmannsthal hatte – und wohl darum dem im Text als knabenhaft geschilderten Gott Bacchus eine der schwersten, heldischsten Tenorpartien der Musikgeschichte in die Kehle komponierte.

Barrie Kosky, der offen schwule Intendant der Komischen Oper, erklärt in seinem Vorwort, die Queerness der Oper mache sich für ihn an den wesentlichen ästhetischen Dimensionen des Genres fest, an „Opulenz, Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Emotionalität, Künstlichkeit, Exaltiertheit und schließlich Melancholie und einer Sehnsucht nach Liebe, die so selten erfüllt wird“.

Das alles zieht natürlich nicht allein die gay community an, sondern auch jene heterosexuell orientierten Menschen, die Antennen haben für das Artifizielle, für das Übersteigerte wie das Sublimierte. Die gerne aus dem Alltag aussteigen, um sich in Sphären zu bewegen, in denen der Raum zur Zeit wird – und die ihr Herz öffnen mögen, um mitzuleiden mit den Außenseitern, den emotional Exilierten, den Paaren, die nur im Tod zueinander finden können. Sie werden durch die „Casta Diva“-Lektüre ebenso viel Erhellendes erfahren wie ihre homosexuellen Sitznachbarn im Opernhaus.

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