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Eileen Myles, 70, wurde mit Gedichten und autobiografischer Prosa bekannt.

© Peggy O'Brien

„Chelsea Girls“ von Eileen Myles: Sex, Drogen & Poesie

Eileen Myles’ queerer Klassiker „Chelsea Girls“ erscheint erstmals auf Deutsch. Die autobiografischen Geschichten skizzieren eine künstlerische und sexuelle Selbstfindung.

Koks für hundert Dollar – das muss schon sein bei der Buch-Premierenparty. Die Dichterin will schließlich eine gute Gastgeberin sein, also besorgt sie das Zeug. Bier natürlich auch.

Am frühen Abend beginnt die Party in einem New Yorker Loft, und Eileen Myles hat in erster Linie das Ziel, nicht betrunken hinzufallen. Sie bietet das Kokain an, nimmt selber welches, fühlt sich zunehmend wie ein Glasbaustein, und plötzlich steht Allen Ginsberg vor ihr.

Der Beat-Poetry-Star bittet die 34-Jährige, ihren Gedichtband zu signieren. Schock. „Ich muss fünf Minuten dagestanden haben und mir das Hirn zermartert haben. Hi Allen, vom einen Howl zum anderen. Lieber Allen, es freut mich, dass du denkst, ich bin eine Dichterin. In Liebe, Eileen.“ Ginsberg verliert die Geduld, sie kritzelt was in das Buch und vergisst sofort, was es war.

Pleite, hungrig und voller Feuer

Eileen Myles hat ihre Erinnerung an diesen irren Abend unter dem Titel „13. Februar 1982“ – das Datum der Buchparty – aufgeschrieben. Die Geschichte markiert einen wichtigen Punkt in ihrem Leben und ist zugleich ein Höhepunkt des 1994 erschienenen und nun erstmals ins Deutsche übersetzten Buches „Chelsea Girls“, das nichts mit Andy Warhols Experimentalfilm zu tun hat.

Der Band versammelt 28 autobiografische Kurzgeschichten, die einen Bogen von Myles’ Fünfziger-und-Sechziger-Jahre-Jugend in einer katholischen Arbeiterfamilie nahe Boston zu den Siebzigern und Achtzigern in New York spannen. Dort führt Myles eine prekäre Künstlerinnen-Existenz, ist ständig pleite und hungrig, gleichzeitig beseelt von dem Wunsch, Dichterin zu werden.

Er ist ihre Antriebsfeder, ihre Daseinsberechtigung. Ständig schreibt sie Verse auf Servietten, weiß genau, dass das ihr Ding ist. Einmal schleudert sie sogar Polizisten, die sie verhaftet haben, entgegen, dass sie dichtet. „Dichter war für mich immer gleichbedeutend mit Heiliger oder Held, die tanzende Figur auf dem Buntglasfenster meiner Seele, die Hand, die sich langsam durch die Zeit erhebt, das Gesurre, das mein Material gegen das blendende Licht empfängt, oh Mann, der Grund dafür, das ich lebe.“

"Ich benahm mich leise daneben"

Diese glühende Dringlichkeit des Kunst-Schaffen-Wollens verbindet sie mit der drei Jahre älteren Patti Smith, die ihre ebenfalls sehr ärmlichen New Yorker Anfänge in „Just Kids“ beschrieben hat.

Myles erinnert sich allerdings aus kürzerer zeitlicher Distanz, vor allem in ungleich wilderer Form. Ihre Stil ist mal tagebuchartig, umgangssprachlich, dann wieder kontrolliert und poetisch.

Manches wirkt als erzähle sie am Frühstückstisch von ihren Erlebnissen: „Hab mich gestern Abend granatenmäßig besoffen. Vielleicht ist granatenmäßig zu laut. Ich benahm mich leise daneben – knutschte irgendwie mit einem Typen und einer Frau in einer Bar rum und ansonsten war es ziemlich ruhig.“

Fahrige Holper-Übersetzung

Es ist schwer Myles’ Sound in eine andere Sprache zu übertragen, und Dieter Fuchs trifft ihn oft nicht. Vermeidbar wären aber die zahlreichen Fahrigkeiten und Fehler gewesen. Etwa die Übersetzung von „gay“ mit schwul, obwohl es sich bei der so bezeichneten Person um eine Frau handelt. Aus „the papers“, Zeitungen!, macht Fuchs „das Papier“, und die Kapitelüberschrift „Violence towards Women“ mit „Gewalt gegenüber Frauen“ zu übersetzen, ist arg holprig.

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Die deutsche Erstausgabe leidet ohnehin unter einer gewissen Lieblosigkeit. Dass auf dem Umschlag nicht wie bei der US-Version Myles’ Porträtfoto von Robert Mapplethorpe abgebildet ist , – die Entstehung des Bildes wird im Buch geschildert – lässt sich verschmerzen. Dass aber die Titelgeschichte im Inhaltsverzeichnis fehlt und es weder Vor- noch Nachwort gibt, ist schon schade.

Eine kleine Würdigung oder Rezeptionsgeschichte hätte dieses Kultbuch verdient gehabt. Zur US-Neuauflage hat Myles 2015 selbst ein Vorwort verfasst. Man erfährt, dass das Buch zwischen 1980 und 1993 entstanden ist und sie damals lieber einen Film gedreht hätte. Weil dafür die Mittel fehlten, schrieb sie Geschichten. „Ich wollte vor allem rüberbringen, was ich für real hielt. Ich wollte darüber berichten.“

Alltäglichkeit sexualisierter Gewalt

Ein eindrucksvoller Bericht, ein zeithistorisches Zeugnis ist Myles auf jeden Fall gelungen. Es dokumentiert, was junge Leute damals trugen, welches Bier getrunken wurde, in welche Bars sie gingen. Erschreckend deutlich wird auch, wie alltäglich sexualisierte Gewalt war.

Ein Kapitel schildert eine Nacht, in der Myles – sturzbetrunken – von mehreren jungen Männern vergewaltigt wird. Im Haus einer Freundin. Alle gehen später darüber hinweg, sie selbst auch. MeToo ist noch fern.

Am stärksten sind die in New York spielenden Kapitel. Sie zeigen nicht nur wie Myles ihre Dichterinnenrolle findet, sondern vor allem wie sie sich ihre Identität als Lesbe erschafft. Mit großer Leidenschaft lenkt sie ihre zunächst in heteronormativen Bahnen dahinzuckelnde Sexualität in die andere Richtung.

Eine Nacht mit Mary

Offen und explizit schreibt Myles über ihre Liebschaften, ihre Bettgeschichten, auch über den Frust, den ihr manche Frauen bereiten. Ein ewiges On-Off verbindet sie mit Chris, die immer wieder auftaucht. So auch in der ganz am Schluss zu findenden Titelgeschichte, die zu den packendsten Kapiteln des Bandes zählt.

Es handelt von einem warmen Sommerabend im Jahr 1979, an dem Chris und Eileen in einem Restaurant sitzen und von einer Kellnerin namens Mary bedient werden. Mit ihr wird Eileen später eine heiße Nach verbringen – in einem winzigen Zimmer im Chelsea Hotel, wo Eileen sonst einen kleinen Job als Haushaltshilfe des schwulen Dichters Jimmy Schuyler hat.

Nach dem Sex mit Mary geht sie kurz zu Schuyler, dann wieder zurück ins Bett zu Mary. Genau solche Geschichten haben den Mythos des Chelsea Hotels als glamouröse Heimstatt der New Yorker Bohème geschaffen – und das baufällige Haus bis heute vor dem endgültigen Zerfall bewahrt.

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Myles ist in den USA nach der Veröffentlichung von über 20 Büchern und vielen Auszeichnungen ein Star, sogar eine Figur der Serie „Transparent“ wurde ihr nachempfunden. Wobei „sie“ und „ihr“ inzwischen die falschen Pronomen sind.

Myles benutzt schon seit einer Weile das genderlose Pronomen „they“. „Ich fühle mich männlich und ich fühle mich weiblich. Ich fühle mich queer. Ich fühle mich trans. Ich fühle mich wie eine Dyke, ich bin eine Lesbe. Ich fühle mich manchmal wie eine Schwuchtel“, hat Eileen Myles vor zwei Jahren in einem Interview gesagt.

Vieles davon ist bereits in „Chelsea Girls“ angelegt, so beschreibt sich das Ich immer mal wieder als Junge, männlich. Doch genderfluide, non-binäre oder queere Identitätskonzepte gab es damals noch nicht. Also wurde Myles erst mal eine Lesbe – und was für eine.

Eileen Myles: Chelsea Girls. Aus dem amerikanischen Englisch von Dieter Fuchs. Matthes & Seitz. Berlin 2020, 252 Seiten, 22 €.

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