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Weil sie an einer illegalen Homo-Hochzeit teilgenommen haben sollen, wurden diese Angeklagten 2014 in Kairo zu drei Jahren Haft verurteilt.

© Anadolu Agency

„Die pinke Linie“ von Mark Gevisser: Gemeinsam gegen moralische Panik

Mark Gevisser berichtet in seinem imposanten Buch „Die pinke Linie“ vom globalen Kampf um queere Selbstbestimmung.

Die Liebesgeschichte von Amira und Maha beginnt auf dem Tahir-Platz. Die beiden Frauen sind im Januar 2011 vom ersten Tag der Proteste gegen den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak dabei. Sie kennen sich nur flüchtig, beteiligen sich zunächst auch eher aus Neugier. Beides ändert sich während sie mit Hunderttausenden anderen – darunter vielen queeren Menschen – 18 Tage nacheinander demonstrieren.

Als der Diktator endlich zurücktritt, feiert der Freundinnenkreis von Amira und Maha das Ereignis ein Wochenende lang in einer extra angemieteten Wohnung in der Kairoer Innenstadt. 15 Frauen, Musik, Tanz, Alkohol. Irgendwann landen Amira und Maha in einem Bett. „Die Ägypter:innen haben es getan, und wir haben es getan“, erinnert sich Amira lachend an das für sie doppelt glückliche Ende der Revolution.

Ein neues globales Grenzgebiet im Menschenrechtsdiskurs

Die Enddreißigerin gehört wie ihre Partnerin zu den Protagonist:innen von Mark Gevissers imposantem Buch „Die pinke Linie“. Es beschreibt, so der Untertitel, „weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität“ anhand ausführlicher Porträts von Menschen aus der queeren Community. Der südafrikanische Autor ist unter anderem nach Russland, Mexiko, Indien, Malawi und die USA gereist, hat seine Interviewpartner:innen über Jahre begleitet und auch ihr Umfeld erforscht.

So beschreibt er im Kapitel über Amira und Maha nicht nur, wie die beiden nach der Revolution ein Café eröffnen, sondern skizziert auch die Situation der queeren Szene in Kairo seit der Jahrtausendwende. Bis zu den Tahir-Platz-Demonstrationen war diese quasi unsichtbar. Der Grund war ein tiefes Trauma, das im Mai 2001 mit der Razzia auf einem Party-Schiff begann.

Auf dem „Queen Boat“, einem bei Schwulen beliebten schwimmenden Club, nahm die Sittenpolizei zahlreiche Gäste fest, 52 wurden angeklagt. Zwar gibt es in Ägypten keinen Paragrafen der homosexuellen Sex unter Strafe stellt, allerdings ein Gesetz gegen „fujur“ oder „Ausschweifungen“, das sich ursprünglich gegen Prostitution richtete. Nun wurde es angewendet, um den Party-Besucher:innen vorzuwerfen, „Teil eines homosexuellen Kults“ zu sein.

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Die Razzia und die darauf folgende Repressionswelle sind für Gevisser ein Musterbeispiel für seinen Begriff der pinken Linie, der „ein neues globales Grenzgebiet im Menschenrechtsdiskurs“ beschreibt. Homosexuelle, Bisexuelle, trans und inter Personen haben nach den Erfolgen ihrer Emanzipationsbewegung in der westlichen Hemisphäre auch in vielen weiteren Ländern mehr Rechte und eine höhere Präsenz erstritten, was jedoch vielerorts auf Widerstand trifft.

„Die Queen-Boat-Razzia war ein früher Fall, in dem eine pinke Linie gezogen wurde zwischen einer westlich orientierten ,globalen’ Weltsicht, in der die Begierden der Homosexuellen als ,schwule’ Identität und Subkultur bejaht wurden, und einer patriarchalischen muslimischen Gesellschaft, die fest entschlossen war, sich gegen diesen Ansturm und alles, wofür er stand, zu behaupten.“

Wird eine pinke Linie gezogen, ist dies meist mit „moralischer Panik“ verbunden – Gevisser leiht sich das Konzept von dem Soziologen Stanley Cohen. Dabei wird eine Personengruppe als Bedrohung für die Werte und Interessen einer Gesellschaft definiert und bekämpft. Diese klassische Sündenbock-Taktik wendete das Mubarak-Regime zu Beginn der nuller Jahre gegen Homosexuelle an, um von der politischen Krise abzulenken.

US-Evangelikale agitierten in Uganda gegen Homosexuelle

Durch die Revolution hat die queere Community in Ägypten eine Art öffentliches Coming-Out, sie wird wieder sichtbar, beansprucht Raum in der Öffentlichkeit. Das 2012 eröffnete Café von Amira und Mahas ist ein Teil davon. Zuvor hatte man sich nur in Privatwohnungen und Restaurants getroffen. Allerdings währte die Zeit der Freiheit nicht lange. Nach der Machtübernahme durch General Abdel Fattah al-Sisi 2013 gab es wieder Razzien und Prozesse wegen „fujur“ – die pinke Linie wird neu gezogen.

Amira und Maha mussten ihren Laden schließen. Eine Odyssee beginnt, bei der sie lange getrennt sind und schließlich 2017 in Amsterdam, wo Maha Asyl bekommt, einen Neustart versuchen. Es klappt nicht, sie trennen sich, und Amira geht nach Kairo zurück. Bald sehnt sich auch Maha dorthin. Die Diskriminierung, die sie in den Niederlanden als Geflüchtete erfährt, macht sie fertig.

[Mark Gevisser: Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm u.a. Suhrkamp, Berlin 2021. 655 S., 28 €.]

Das eigene Land verlassen zu müssen und in der Fremde erneut angefeindet zu werden, diese Erfahrung haben auch andere Protagonist:innen der „Pinken Linie“ gemacht. Der junge Schwule Michael etwa, der aus Uganda über Kenia nach Kanada flieht und dort erstmals Rassismus erlebt. „Meinem Eindruck nach“, schreibt Gevisser, „hatten sich seine Ängste in seiner aktuellen Situation – an dem Ort, der eigentlich seine Zuflucht hätte sein sollen – eher noch verschärft als verringert und bewegten sich auf eine Paranoia zu.“

Auch in Michaels Heimatland, in dem es einst eine der offensten Schwulenszenen Ostafrikas gegeben hatte, kam es zu einer pinken Linienziehung, als 2005 ein neuer Verfassungszusatz die gleichgeschlechtliche Ehe kriminalisierte. Evangelikale Lobbyorganisationen hatten dabei eine wichtige Rolle gespielt und taten es auch bei der Anti-Homosexuellen-Hetze in den Jahren danach. Tatkräftig unterstützt wurden sie von US-amerikanischen Evangelikalen. Diesen wurde im Gegensatz zu LGBTQ-Aktivist:innen seitens der ugandischen Politik nie vorgeworfen, eine westliche Ideologie zu propagieren und Menschen dafür zu rekrutieren.

Mark Gevisser nimmt dieses „Rekrutierungsargument“ sowie die Frage der westlichen Einflussnahme auf Gesellschaften des globalen Südens beziehungsweise Ostens immer wieder auf. Genau wie in den zwischen die Porträt-Kapitel geschalteten Essays zu Themen wie den neuen Kulturkämpfen oder dem „Schreckgespenst der Gendertheorie“ geht er dabei eher beschreibend und fragend vor.

Mark Gevisser besucht eine gendernonkonforme Gemeinschaft in Indien

Als weißer, 1964 geborener und gut ausgebildeter Schwuler aus der Mittelschicht gehört er selbst zum privilegierten Teil der LGBTQ-Gemeinschaft, die sich die eigenen Freiheiten auch für marginalisiertere Queers wünscht. Natürlich ist Gevisser nicht „neutral“, dennoch ist sein Ansatz ein journalistischer, kein aktivistischer. Und wenn er einem Interviewpartner wie Michael finanziell hilft, macht er das transparent und problematisiert es.

Das knapp 600-seitige Werk (plus Fußnoten und Literaturverzeichnis) ist beseelt vom Wunsch, die globalisierungsbedingten Entwicklungen der queeren Emanzipation zu verstehen – und den Horizont zu erweitern. Eines der aufschlussreichsten Kapitel ist dabei das letzte. Es führt in den ostindischen Küstenort Devanampattinam zu einer Kothi-Gemeinschaft. Dabei handelt es ich um männlich gelesene Personen, die sich „in ihrem Inneren als Frau“ empfinden. Anders als das in Indien bekannte dritte Geschlecht der Hijra, das seit 2011 als Transgender bei den Volkszählungen vermerkt werden kann, streben die Kothis jedoch nicht die traditionelle Kastration an.

Mark Gevisser beobachtet, wie die Kothis, die 2012 bei seinem ersten Besuch noch nicht einmal das Wort „gay“ kannten, in den Jahren darauf von einer neuen, auf Rechten basierenden Kultur profitieren.

Am deutlichsten zeigt sich das an Lakshaya, die einen Job bei einem Aidshilfe-Projekt bekommt und sich im Netz für Frauenrechte stark macht. Sie wehrt sich zudem dagegen, dass ihre Kothi-Identität an Äußerlichkeiten wie dem Tragen eines Saris oder langer Haare festgemacht wird. Zum Thema Operation sagt sie: „Wenn ich mir den Penis abschneide, bin ich auch nicht weiblicher. Ich bin bereits eine Frau.“

Damit bewegt sie sich ganz weit vorne an der von Gevisser als neuester pinker Linie ausgemachten Frage der Genderidentiät und des Selbstbestimmungsrechts. Sie wird auch in Deutschland derzeit heiß, mitunter fast hysterisch diskutiert. Zum Runterkommen sei allen Besorgten das Kothi-Kapitel der „Pinken Linie“ ans Herz gelegt. Nadine Lange

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