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Mittels Infotainment geben queere TikToker*innen Einblick in ihre Lebensrealität.

© Adobe Stock; Montage: Tagesspiegel

LGBTIQ-Community auf TikTok: Die eigene Blase bunter machen

TikTok-Trends prägen das Leben junger Menschen – und Queerness ist gerade angesagt. Doch das hat nicht nur Vorteile. Drei queere TikToker*innen berichten.

An manchen Tagen filmt Dimi gleich zehn Videos auf einmal. „Damit es sich auch lohnt“. Er schminkt sich immer wieder neu, wechselt die Outfits und stimmt seine Nägel darauf ab. Auch den Hintergrund versucht er abwechslungsreich zu gestalten. Nur die Haare kann er nicht für jedes Video neu färben.

Ob lustige Sketche über den heterosexuellen besten Freund, ernsthafte Videos über die Lage von LGBTs in Ungarn, Begriffsdefinitionen oder einfach in klassischer TikTok-Manier zu den Songs der Queer-Community tanzen: Der 24-jährige Dimi gibt auf seinem Kanal "dimxoo" Einblicke in queere Lebensrealitäten. Wie auch auf TikTok bleibt sein Nachname beim Gespräch in einem Berliner Café unerwähnt. Das erste Video lud er „just for fun“ im Februar 2021 hoch. Mittlerweile hat Dimi über 155 Videos auf dem Netzwerk, knapp 60.000 Follower*innen und über zwei Millionen Likes.

Die Macht des TikTok-Algorithmus

„Ich bin mir zu 90 Prozent sicher, dass meine Videos an queere Personen oder Allies ausgespielt werden. Das Umfeld ist also sehr unterstützend. Und das macht TikTok zu einer Plattform, wo wir unsere Queerness zeigen können, ohne von vornherein Ablehnung fürchten zu müssen“, sagt Dimi. Als Ally der queeren Community wird eine Person bezeichnet, die LGBT-Personen und -Gruppen unterstützt, sich für ihre Rechte einsetzt und sich gegen ihre Diskriminierung positioniert. 

Wer welches Videos zu sehen bekommt, entscheidet der TikTok-Algorithmus. Basierend unter anderem auf den bei der Anmeldung angegeben Kategorien, der Verweildauer und den Interaktionen erkennt der Algorithmus schnell die spezifischen Interessen seiner*r Nutzer*innen und spielt passende Inhalte aus. Ob HairTok, BookTok, ArtTok, HealthTok oder eben LGBTTok – auf der personalisierten Startseite sind Videos zu jedem Thema zu finden.

Die Dualität aus öffentlichem Raum und privater Blase macht TikTok zu einem ausgezeichneten Ort für erste queere Erkundungen. „Eine Person bleibt bei einem zufälligen Video hängen, zum Beispiel einer kurzen Definition von Intersexualität, weil sie sich direkt angesprochen fühlt. Der Algorithmus checkt das, und das nächste queere Video folgt. Und auf einmal wird man in diese neue, queere TikTok-Welt hineingezogen“, sagt Dimi.

Fragen, die TikTok-Nutzer*innen an Dimi stellen, drehen sich oft ums Coming-Out, die richtigen Pronomen und wie man merkt, dass man queer ist.
Fragen, die TikTok-Nutzer*innen an Dimi stellen, drehen sich oft ums Coming-Out, die richtigen Pronomen und wie man merkt, dass man queer ist.

© Instagram-Account dimixoo; Vince Ecker

Das sind auch die Nutzer*innen, die Kommentare à la „Ich wusste nie, wie ich mich beschreiben soll und habe bis jetzt nach einem Label gesucht“ hinterlassen, so Dimi. Aber niemand könne queeren Themen in maximal drei Minuten gerecht werden.

„Deswegen ist es so wichtig, dass Organisationen wie der CSD mit DIVE IN und der LGBT-Club SchwuZ auf TikTok sind. Sie bilden für viele Queers die Brücke zwischen aufklärerischen Online-Content und realen Angeboten“, sagt Dimi. Er ist auf beiden Kanälen als Moderator zu sehen und „mega stolz, bei dieser Aufgabe mitzuwirken“.

Caro hat zwar schon lange vor TikTok erkannt, dass sie queer ist, war in verschiedenen LGBT-Kneipen und auf ein paar Christopher Street Days. Aber ihre Freund*innen zu Hause sind mehrheitlich cis hetero. Und Repräsentations- und Ansprechpersonen gab es bei ihr im ländlichen Bayern auch nicht wirklich, erzählt die 22-Jährige am Telefon. Dann kam TikTok. Durch gegenseitige Likes und Kommentare hat sie sich dort mittlerweile ihre eigene queere Community aufgebaut, die sie durchaus als Safe Space versteht. "TikTok ist für mich ein Ort queerer Repräsentation, den ich auch für mein 16-jähriges Ich gewollt hätte", sagt Caro, deren Kanal now.livelife heißt.

Caro hat wie viele TikToker*innen ihren Instagram-Account auf TikTok angegeben, um für Nutzer*innen kontaktierbar zu sein. Auf TikTok kann man nur Direktnachrichten austauschen, wenn man sich gegenseitig folgt.
Caro hat wie viele TikToker*innen ihren Instagram-Account auf TikTok angegeben, um für Nutzer*innen kontaktierbar zu sein. Auf TikTok kann man nur Direktnachrichten austauschen, wenn man sich gegenseitig folgt.

© Caro

Mit ein paar queeren TikTok-Moderator*innen hat sie sich auch offline getroffen und auf Anhieb angefreundet. „Man hat bereits auf TikTok so persönliche Themen wie die eigene Sexualität, Outing und Co. angesprochen. Das stellt bei realen Treffen direkt eine Verbundenheit her“, sagt Caro. Im Gegensatz zu Instagram seien Inhalte auf TikTok "mehr aus dem Leben". Sie hat auch einen gleichnamigen Instagram-Kanal, auf dem sie als Fotografin aktiv ist. Aber über ihre Queerness spricht sie nur auf TikTok. Weil LGBTI-Themen dort so präsent und geschätzt zu sein scheinen.

Die Illusion eines Safe Spaces

Doch dass die eigene TikTok-Blase kein queerer Safe Space ist, wurde am Beispiel des TikTok-Accounts „mitreden“ deutlich. Der Account entstand im Zuge der TikTok-Kampagne #LernenMitTikTok, mit der das Unternehmen Creator*innen von lehrreichen Clips fördern will. Mitreden sprach durch Sketche und auf locker-lustige Art über Feminismus-, LGBT- und Diskriminierungsthemen, mittlerweile ist der Kanal inaktiv. Die Rückmeldungen waren anfangs durchweg positiv.

Doch dann tauchten unter den Videos vermehrt beleidigende Nachrichten auf, die Moderatorinnen erhielten Drohungen und es gab Accounts, die gezielt versuchten, „mitreden“ zu diskreditieren.

Zwei Moderatorinnen stiegen aus, unter anderem Maria Popov, die die LGBT-Themen vorstellte. Ihren Job übernahm der freie Journalist Marlon. Er habe zwar nicht so viel Hass erfahren wie seine Vorgängerin und seine Co-Moderatorinnen, aber geprägt habe ihn diese Erfahrung trotzdem, sagt er im Zoom-Gespräch.

Romantische Darstellung von Queerness

„TikTok vermittelt dir die Illusion eines Safe Spaces. Das geht so lange gut, wie man in der eigenen Blase bleibt und die Kommentarspalte nicht öffnet“, erzählt der 29-Jährige. „Ich stelle mich mittlerweile auf feindliche Kommentare ein und habe gelernt, dass ich nicht all diese Leute umstimmen muss“. Er sei froh, dass er während seiner Zeit bei „mitreden“ in seiner Queerness schon sehr gefestigt war und bereits Social Media-Erfahrung hatte, sonst hätte er das Ganze nicht so gut wegstecken können.

Die auf TikTok hauptsächlich vertretene Altersgruppe ist 13 bis 24 Jahre alt. Und viele haben gerade erst begonnen, sich mit ihrer Sexualität und Geschlechtsidentität auseinanderzusetzten. Auf sie könne es extrem verunsichernd wirken, solche Hasswellen mitzuerleben, finden Marlon und Dimi.

Besonders, wenn ihnen der Algorithmus davor ein überwiegend unbeschwertes, freudvolles Bild von Queerness gezeigt hat. Aufnahmen davon, wie ein Mann seinen Partner an Valentinstag überrascht beispielsweise, Urlaubsbilder eines gleichgeschlechtlichen Paars oder lustige Geschichten über Datingerfahrungen.  

Beim TikTok-Kanal mitreden stellte Marlon LGBT-Themen vor. Auch auf seinem eigenen Kanal möchte er künftig mehr queeres Infotainment bieten.
Beim TikTok-Kanal mitreden stellte Marlon LGBT-Themen vor. Auch auf seinem eigenen Kanal möchte er künftig mehr queeres Infotainment bieten.

© Ina Bohnsack

Was jedoch ebenso Bestandteil queerer Lebensrealitäten und auf TikTok kaum zu finden ist: Das Gedankenkarussell vor dem Coming Out, die ersten unsicheren Annäherungsversuche oder die Zweifel, ob man queer genug sei. „Das Problem ist, dass wir gar nicht wissen, ob es nur wenige Videos zu diesen Themen gibt oder sie vom Algorithmus zurückgehalten werden“, erklärt Dimi.

"Wir sind bereit, uns zu zeigen"

TikTok stand bereits 2020 in der Kritik, politische Inhalte und bestimmte Hashtags auszubremsen, unter anderem aus der LGBT-Szene. Queere TikToker*innen verwenden deshalb oftmals Abwandlungen von LGBT-Begriffen, beispielsweise „g@y“, „homo6uell“ oder „homoseggsuell“.

Verschiedenen Medien gegenüber stritt TikTok diese Vorwürfe ab und betonte, dass die App ein inklusiver Raum sei und sie ja auch mit einem lesbischen Paar werben würden. Wie der TikTok-Algorithmus funktioniert, wollte das Unternehmen jedoch nicht preisgeben.

Die Möglichkeit, die Bandbreite queeren Lebens auf TikTok abzubilden, sehe Dimi aber schon. „Immerhin sind wir bereit, uns zu zeigen, aufzuklären und Nutzer*innen ein Teil unseres Lebens sein zu lassen.“

Ein neues Verständnis von Geschlecht - oder doch Queerbaiting?

Auch wenn gerade nur positive Aspekte queeren Lebens auf TikTok „trenden“ würden, einen großen Vorteil habe das doch: mehr Repräsentation. „Die Leute sehen, dass wir ein cooles Leben haben, wollen Teil der Community sein oder lassen sich inspirieren“, sagt Marlon. Er glaube schon, dass TikTok als Trendsetter für die Generation Z heteronormative Strukturen „zumindest lockert“ und ein neues Verständnis von Genderfluidität, Männlichkeit und Weiblichkeit abbildet.

„Männer, die offen über ihre Bisexualität sprechen, bekommen von Frauen in der Kommentarspalte bestätigt, dass sie kein Problem damit hätten, wenn ihr Freund bi wäre. Das hätte mit 17 Jahren keine meiner Freundinnen gesagt“, sagt Marlon. Auch bei einigen heterosexuellen TikToker*innen finde er mittlerweile Züge, die noch vor ein paar Jahren als vermeintlich homoerotisch abgewertet wurden. „Jedes Mal wenn ich auf TikTok einen cis hetero Mann sehe, der sich einen Eyeliner zieht, fühlt es sich wie ein Sieg an – und ein Stückchen mehr Akzeptanz“.

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Gleichzeitig scheinen queere Inhalte, am besten erotisch aufgeladen, ein sicherer Weg zum Erfolg zu sein. Ein besonders beliebtes Motiv: Zwei gleichgeschlechtliche Teenager packen sich an der Kehle oder reiben sich aneinander, ein tiefer Blick, ihre Münder kommen sich langsam näher - das Video stoppt. TikTok-Star Elijha Elliot veröffentlichte mehrerer solcher Videos mit seinen sogenannten "boyfriends" und kassierte tausende Aufrufe und Kommentare mit Feuer- und Herz-Emojis. Er und seine Freunde identifizieren sich der "New York Times" zufolge als heterosexuell.

„Solche Videos zählen für mich schon zu Queerbaiting. Das geht es nur darum, den größten Profit rauszuschlagen“, sagt Dimi. Die Nutzer*innen hätten seiner Erfahrung nach teilweise fünf oder sechs Accounts. Auf zweien seien sie dann vermeintlich schwul, auf den anderen heterosexuell. „Die kommen in unsere TikTok-Blase, nehmen so viel Kommerz mit wie möglich. Wenn unter ihre Videos dann queerfeindlich kommentiert wird, sind sie fein raus, weil sie ja sagen können, dass sie heterosexuell sind“.

Er sehe für die LGBTI-Community jedoch wenig Möglichkeiten, solche Videos zu verhindern. Es liegt wohl in der Hand derjenigen, denen solche Videos angezeigt werden, durch aktives Wegklicken und Nichtreagieren ein Zeichen zu setzen.

Denn was ein*e jede*r Nutzer*in in Marlons und Dimis Augen selbst steuern kann, ist die eigene For-You-Page. „Je nachdem, mit welchen Videos man interagiert, kann man seine queere Blase diverser, lehrreicher und positiver gestalten“, erklärt Marlon. Deswegen werde TikTok zwar kein Safe Space, aber ein Ort, „wo ganz viele queere Menschen zu sehen sind, die einen inspirieren und ein Stück weiter nach vorne bringen.“

Jasmin Ehbauer

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