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Isabelle Huppert verhilft Marvin (Finnegan Oldfield) mit ihrem Duo-Auftritt zum Durchbruch.

© Salzgeber

"Marvin" im Kino: Hölle heißt Familie

Anne Fontaines feinfühliger Film „Marvin“ basiert auf der Lebensgeschichte des französischen Autors Édouard Louis, der derzeit eine Gastprofessur in Berlin hat.

Stupsnäschen, hellwache Augen, ein schmaler, melancholischer Mund: Marvin hat das Gesicht eines Engels. Und lebt in der Hölle. Zwei Mitschüler zerren ihn auf die Toilette, beschmieren ihn mit Lippenstift: „Wir machen dich hübsch. Und jetzt bläst du mir einen, aber ohne Zähne! Ich bringe dich um, wenn du mir wehtust!“ Sie verachten diesen Jungen, der etwas Mädchenhaftes hat, er irritiert sie. Zu Hause geht die Hölle weiter, mit drei Brüdern in einem Zimmer. Die Mitschüler spüren: Er ist anders, sie nennen ihn pédé, die Schwuchtel. Dass er Marvin Bijoux heißt, hilft nicht: Bijou ist das französische Wort für Schmuckstück.

Es ist die Lebensgeschichte des Schriftstellers Édouard Louis, auf der Anne Fontaines Film „Marvin“ basiert. Louis ist zurzeit in Berlin sehr präsent, er hat eine FU-Gastprofessur, Thomas Ostermeier brachte sein zweites Buch „Im Herzen der Gewalt“ an der Schaubühne auf die Bühne. In seinem Debüt „Das Ende von Eddy“ beschreibt Louis, wie er sich aus den erdrückenden Verhältnissen seiner Prekariatsfamilie in der nordfranzösischen Picardie befreit, Soziologie studiert und nach Paris zieht. Fontaine ließ sich von dieser Grundstruktur inspirieren – um sie sehr frei weiterzuerzählen.

Das Schultheater als Rettung

Wie bei Fontaine hatte auch Louis einen unmöglichen Familiennamen – Bellegueule, auf Deutsch „Schönmaul“ –, den er später als Teil seiner Emanzipationsgeschichte ändert. Aber wir sind nicht in der Picardie, sondern in den sanft geschwungenen Hügeln der Vogesen, tiefste Provinz gleichwohl. Und Marvin findet seine Rettung nicht im Soziologiestudium, sondern im Theater, zunächst in einer Schülertruppe, zu der ihn seine Direktorin schickt. Ein holpriger Weg auch dies: „Lass uns nach Assnear gehen“, rezitiert er. Die Stadt heißt aber Asnières, das „s“ wird nicht gesprochen. Der Spott der anderen ist ihm sicher, wieder einmal.

Fontaines wichtigster Kniff: Sie lässt Marvin von zwei Darstellern spielen, Jules Porier ist das Kind, Finnegan Oldfield der Erwachsene, oft kühl und geheimnisvoll, er gibt wenig von sich preis, die Verletzungen der Kindheit, die Narben blocken alles ab. Beide Zeitebenen werden farblich und in der Körnung voneinander abgesetzt, der Film springt, nicht immer chronologisch. Weil die Regisseurin nicht an naturalistischen Darstellungen interessiert ist, sondern an Augenblicken. Trotzdem lässt sie Raum für elegische Passagen und stilisierte Szenen, immer wieder saugt sich die Kamera fest an den Gesichtern, folgt dem Verlauf des Halses wie bei einer griechischen Statue, scheint jedes Grübchen einfangen zu wollen.

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Dies ist ein Film über Körperlichkeit – und über Gewalt, besonders eindrücklich in den Szenen am Küchentisch. Wobei Marvins Vater (Grégory Gadebois) seine Kinder nie schlägt. Unheimlich still wirkt er oft, ein massiger Fettkörper mit Walrossbart im Unterhemd, sein träges und tristes Leben als Gabelstaplerfahrer kann nur Bier aufhellen. Fontaine zeichnet ihn durchaus mit Sympathie, er ist sogar wandlungsfähig: Gegen Ende, als Marvin – der sich jetzt Martin Clément nennt – die Familie wieder besucht, wirkt er gelöst. Erstmals kann man ihm in die Augen schauen. Es beeindruckt ihn, dass sein Sohn inzwischen ein berühmter Schauspieler ist, darin dem Vater von Didier Eribon in dessen Buch „Rückkehr nach Reims“ nicht unähnlich.

Väterliche Freunde, helfende Frauen

Eribon und Geoffroy de Lagasnerie, beides Soziologen, sind bei Édouard Louis die väterlichen besten Freunde, eine Rolle, die hier Theaterregisseur Abel (Vincent Macaigne) und sein Partner Pierre (Sharif Andoura) übernehmen. Charles Berling ist Roland, den Marvin im Kunstnebel des Pariser Nachtlebens kennenlernt und der ihn auf die falsche Bahn zu lenken droht: weg von der Kunst, hinein in die Welt der Reichen und Schönen. Doch in dem Jaguar, den er fährt, wird er auch sterben.

Es sind zwei Frauen, die Marvins Weg entscheidend prägen: Schuldirektorin Madeleine Clément, nach der er sich später nennt, von Catherine Mouchet mit einer Mischung aus mütterlicher Sanftmütigkeit und zarter Strenge dargestellt, und Isabelle Huppert, die sich selbst spielt und Marvin dank ihrer Prominenz den großen Durchbruch ermöglicht: den Duo-Abend „Wer hat Marvin Bijoux umgebracht?“ in den Bouffes du Nord. Da entreißt sich einer seiner Vergangenheit. „Marvin“ ist kein Feeldgood-Movie. Aber er entlässt den Zuschauer dennoch mit einem guten Gefühl: dass man es tatsächlich schaffen kann, der zu werden, der man sein will.
In den Kinos Central, Moviemento, Delphi Lux, Xenon, Zukunft (alle OmU)

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