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Marina Sabinasz auf einem vermutlich in den achtziger Jahren aufgenommenen Foto.

© privat

Nachruf auf Marina Sabinasz (Geb. 1952): Eine Rose als Stütze

Ein Hüftschaden hat das Leben von Marina Sabinasz schwer gemacht. Monate verbrachte sie im Krankenhaus. Aber dort verliebte sie sich auch zum ersten Mal in ein Mädchen.

Von David Ensikat

Sie waren in Jerusalem und saßen auf dem Dach ihres Hotels. Unter ihnen lag die Stadt, und ihnen war, als läge dort die ganze Welt. So schön anzusehen von hier oben. So viel Zwietracht, Leid dort unten, weit weg, unsichtbar.

Für Marina waren das Augenblicke des Trostes. Sie saß mit der geliebten Frau an ihrer Seite und sah Schönheit. Das Leid, von dem sie wusste, war nicht ihr Leid. Mit der Zwietracht hatte sie nichts zu tun. Wie eine vorübergehende Umkehrung ihres Lebens war das, eines Lebens, das von Schmerz und Angst geprägt war und von der Sehnsucht nach Leichtigkeit und Schönheit.

Ein Hüftschaden hatte ihr Leben schwer gemacht, von Anfang an. Monate verbrachte sie im Krankenhaus, immer wieder. Bewegungslos, fest im Gips. Sie sah aus dem Fenster und sah die Vögel fliegen und die Zweige der Bäume, die sich im Wind bogen. Für andere sind das nur Vögel und Zweige. Sie sah Freiheit und Bewegung.

Sie erzählte, dass sie sich im Krankenhaus zum ersten Mal verliebt habe. Ein Mädchen, das vor ihrem Fenster mit dem Fahrrad auf und ab fuhr. Es kam irgendwann hinein und schenkte ihr einen Bonbon und ein Lächeln.

Ihr Vater starb, als sie zehn war. Ihre Mutter war selbst immer wieder krank und kämpfte in unterschiedlichen Anstellungen für sich und ihre Tochter. Anstrengung und Sorge bestimmten das Leben. Was anderen Kindern leicht fiel, musste Marina erringen. Oft genug rang sie nicht, sondern glaubte: Das schaffst du nie. Wenn andere sich im Sommer kopfüber ins Wasser stürzten, lief sie bis zu den Knien hinein, dann keinen Schritt weiter.

Vielleicht gelang es besser, anderen zu helfen als sich selbst

Sie machte ein Praktikum in der Stoffabteilung des KaDeWe. Es gefiel ihr dort, sie war umgeben von schönen Dingen, sie erfüllte die Ansprüche so gut, dass man sie fragte, ob sie nicht bleiben wolle.

Sie sollte nicht. Sie sollte es mal besser haben. Sie war doch klug, zu klug für so etwas Einfaches. Marina studierte Pädagogik: Vielleicht gelang es besser, anderen zu helfen als sich selbst.

Es gelang in einem Sozialprojekt für türkische Frauen. Was war schon eine schiefe Hüfte gegen die Schicksale, denen sie hier begegnete?

Mit 38 wäre Marina fast an einer Gehirnblutung gestorben. Ganz erholt hat sie sich davon nie. Alles fiel ihr schwerer, sie benötigte für jede Verrichtung doppelt so lange wie zuvor. Der Arbeit bei der Diakonie war sie kaum gewachsen. Es war ihr Glück und ihre Bürde, dass Christel, die Frau, mit der sie zusammenlebte, in derselben Abteilung arbeitete. Sie konnte Marina bei der Arbeit helfen. Das Gefühl, in dieser Welt der Anforderungen von geringem Wert zu sein, konnte sie ihr nicht nehmen.

Was, wenn ich damals in der Stoffabteilung geblieben wäre, so fragte sie sich manchmal.

Wenn sie falsch mitsang, wusste ihre Frau, dass es Marina gut geht

Der Sozialstaat hilft den Schwachen. Und er misstraut ihnen. Die Berufsunfähige musste die Berufsunfähigkeit so gründlich unter Beweis stellen, Atteste beibringen, in Tests ihre Unzulänglichkeit belegen, dass ihr nach Jahren nicht nur die Gnade der frühen Rente zuteil wurde, sondern auch der letzte Rest Selbstbewusstsein genommen war.

Was half, war der kleine Garten, wo sie, so lange sie das konnte, die Beete umgrub und in jedem Frühjahr die neuen Tulpen zählte, die aus der Erde kamen, so schön und ohne jede Mühe. Es half der Blick in den Himmel, wo sich die Zweige bogen und die Vögel flogen. Es half die Musik. Wenn sie ebenso beseelt wie falsch mitsang, dann wusste Christel, ihre Frau, dass sie jetzt nicht an sich selbst dachte, dass es ihr gut ging.

Was half, waren Beobachtungen. Sie hatte ein großes Talent, fremde Menschen anzusehen und aus den spärlichen Signalen auf Charaktere und Schicksale zu schließen. Sie hörte ihren Freunden zu, so aufmerksam wie keine Zweite.

Wer es schwer hat mit sich, in sich, der sucht Trost im anderen. Man kann ihn finden, wenn man weiß, dass es anderen nicht anders geht. Marina liebte dieses Gedicht von Hilde Domin, das endet:

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.
Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.
Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

Dieser Text erschien zuerst auf der Nachrufe-Seite des Tagesspiegels.

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