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Holocaust-Gedenken am Mahnmal für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus in Berlin-Mitte.

© Kai-Uwe Heinrich/Tsp

Petition für NS-Gedenken: Schluss mit dem Erinnern zweiter Klasse an homosexuelle NS-Opfer

Der Bundestag muss endlich auch homosexueller NS-Opfer würdig gedenken - nur so lassen sich Lehren für heute gewinnen. Ein Gastbeitrag.

Seit 1996 wird einmal im Jahr am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, im Bundestag in einer Gedenkstunde der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Dieses Jahr wird der israelisch-amerikanische Historiker und Holocaust-Überlebende Saul Friedländer sprechen (ausnahmsweise am 31. Januar), im Jahr 2020 wird es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sein.

Bundespräsident Roman Herzog sagte in der ersten Gedenkstunde damals  zur Verfolgung der verschiedenen Opfergruppen: "Weil sie... vom willkürlich festgelegten Menschenbild abwichen, bezeichnete man sie als 'Untermenschen', 'Schädlinge' oder 'lebensunwertes Leben' - Juden, Sinti und Roma, Schwerstbehinderte, Homosexuelle... Die Wirkungen dieser Politik waren vor allem deshalb so furchtbar, weil sie sich wohldosiert in das öffentliche Bewusstsein einschlichen, ja... den Gehirnen infiltriert wurden."

NS-Opfer nicht nur pflichtschuldig aufzählen

Seit 1996 gab es viele bewegende Reden, die die Vernichtungspolitik der Nazis aus verschiedener, oft persönlicher Perspektive veranschaulichten.  2011 schilderte der Niederländer Zioni Weisz das Leid der Roma und Sinti. 2016 wurde an die vielen Zwangsarbeiter*innen erinnert und 2017 kamen erstmals zwei Angehörige der durch „Euthanasie“ ermordeten behinderten Menschen zu Wort.

Vor diesem Hintergrund forderte vor einem  Jahr, am 15. Januar 2018, eine Petition, unterzeichnet von vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im breitest politischem Spektrum (darunter auch international anerkannte Historiker*innen, Vertreter*innen vieler LGBTIQ-Organisationen sowie vier Holocaust-Überlebende) von Bundestagspräsident  Wolfgang Schäuble und seinem Präsidium, dass einmal auch an die homosexuellen Opfer erinnert werden möge.

Nicht in einer pflichtschuldigen Aufzählung mit anderen Opfern als Erinnerung zweiter Klasse, sondern als eigenes Thema einer Gedenkstunde. Denn nur so können, das haben die  Forschungen zum Antisemitismus in Bezug auf jüdische Opfer bewiesen, auch differenzierte Lehren für heute gewonnen werden.

Schäuble antwortet ablehnend auf die Petition

Am 18. März 2018 antwortete Schäuble, dass die Termine für 2019 und 2020 bereits vergeben seien, aber „Ihr Anliegen ist in das Verzeichnis eingegangener Vorschläge aufgenommen worden und wird bei zukünftigen Abwägungs- und Entscheidungsprozessen einen prominenten Platz einnehmen.“

Da die jetzige Legislaturperiode 2021 endet, wäre es wichtig, dass zumindest für dieses Jahr  bald eine Entscheidung noch vom jetzigen Bundestagspräsidenten getroffen wird. Denn niemand vermag zu sagen, wer danach das Bundestagspräsidium stellen wird.  Das weiß natürlich auch Schäuble.

In einer erneuten Eingabe wiesen wir darauf hin, dass die Homosexuellen die einzigen Opfer der NS-Zeit sind, die auch nach dem 8. Mai 1945 nach dem gleichen unter den Nazis verschärften Paragrafen 175 über Jahrzehnte weiter verfolgt wurden: Nach den ca. 50.000 Verhaftungen in der NS-Zeit 1933-45 waren es sogar noch mehr, bis der Paragraf 175 erst 1994 völlig abgeschafft wurde – das Justizministerium ging 2017 von ca. 64.000 Verhaftungen aus.  Der damalige Justizminister und jetzige Außenminister Heiko Maas sprach von  “Schandtaten des Rechtsstaates”. Außer den strafrechtlich Angeklagten gab es unendlich viele andere, denen ein Leben in Freiheit und Würde unmöglich gemacht wurde.

Die Verfolgung Homosexueller ist fürchterliche Gegenwart

Und:  Die Verfolgung homosexueller Frauen und Männer in vielen Teilen der Welt ist leider keine Geschichte, sondern fürchterliche Gegenwart:  In zwölf Ländern gilt die Todesstrafe, in mehr als 70 Ländern drohen langjährige bis lebenslängliche Haftstrafen, oft auch Folter ohne jede gerichtliche Verurteilung. Das ist die gegenwärtige Realität für Millionen Angehörige sexueller Minderheiten, für die ein Erinnern an die NS-Zeit eine konkrete Unterstützung für ihr Überleben heute bedeutet.

Am 18. Mai 2018 erhalten wir erneut eine ablehnende Antwort von Herrn Schäuble. Dieses Mal vermittelt über den Protokollchef des Bundestages, der unter anderem schreibt, dass das Bundestagspräsidium  sich entschieden habe, „davon abzusehen, bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine Entscheidung für die Folgejahre zu treffen“.

Wirklich das gesamte Präsidium ? In den nächsten Monaten schreiben wir die fünf Bundestagsvizepräsident*innen an: Claudia Roth (Grüne), Petra Pau (Linke), Wolfgang Kubicki (FDP), Thomas Oppermann (SPD) und Hans Peter Friedrich (CSU). Alle unterstützen ausdrücklich unser Anliegen, am 27. Januar 2021, an homosexuelle Opfer zu erinnern – nur Herr Friedrich antwortet auch auf mehrfache Nachfrage nicht. Wir erfahren, dass das Präsidium beratende Funktion hat, der Bundestagspräsident am Ende allein entscheiden kann.

Unterstützung aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft

Unser Angebot Anfang November 2019, unsere aktualisierte Petition Herrn Schäuble  persönlich zu übergeben und zu erläutern, wird abgelehnt, da „Petitionen prinzipiell nicht vom Bundestagspräsidenten in Empfang genommen werden.“

Gleichzeitig bekommen wir mehr und mehr Unterstützung aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft, längst nicht nur von sogenannten „Betroffenen-Organisationen“. Besonders bewegend die Stellungnahmen anderer ehemaliger Opfergruppen der NS-Zeit – so schreibt zum Beispiel Petra Rosenberg, die Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma:  „Auch Sinti und Roma haben die leidvolle Erfahrung machen müssen, noch lange nach 1945 zu den sogenannten 'vergessenen Opfergruppen' zu gehören. Es erforderte ein jahrelanges Engagement der direkt Betroffenen wie auch der sogenannten zweiten Generation, bis es zu einem gesellschaftlichen Interesse... kam. Ein derartiger öffentlicher Akt der Anerkennung sollte fraglos auch den Menschen, die als Homosexuelle im Nationalsozialismus verfolgt wurden, nicht vorenthalten werden.“

Und Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, ergänzt: „Im Internationalen Auschwitz Komitee sind seit Jahrzehnten jüdische und nicht-jüdische Überlebende von Auschwitz im gemeinsamen Engagement als Zeitzeugen in vielen Ländern versammelt... Sie würden es außerordentlich begrüßen, wenn am 27. Januar des Jahres 2021 in der Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages die homosexuellen Opfer dieses menschenverachtenden Systems geehrt und vor neuer Ausgrenzung von Minderheiten und neuem Hass gewarnt werden würde.“

Die Direktorin des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Stefanie Schüler-Springorum, teilt uns unter anderem mit: „ Die Gruppe der homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus... (und) ihre noch lange nach 1945 andauernde Kriminalisierung und die bis heute bestehenden Vorurteile in weiten Teilen der Bevölkerung, erfordern endlich überfällige Korrekturen für Politik und Gesellschaft. Es ist dringend an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag in seiner jährlichen Gedenkstunde am 27. Januar 2021... der homosexuellen Opfer gedenkt.

In Auschwitz wird nicht an Häftlinge mit dem Rosa Winkel erinnert

Auch aus dem Ausland, unter anderem aus Dänemark, England, den Niederlanden und Ungarn, erreicht uns viel Zustimmung. Besonders freut uns die Unterzeichnung der Petition von vier Holocaust-Überlebenden und sechs polnischen Historiker*innen, für die der 27. Januar fraglos eine besondere Bedeutung hat. Der Historiker Marcin Kula aus Warschau schreibt: „Zweifellos wurde das Leiden von Homosexuellen in deutschen Konzentrationslagern, auch in Auschwitz, lange nicht nur ignoriert, sondern bewusst verleugnet, weil es nicht in das Selbstverständnis vieler Nationen... nach 1945 passte. Es ist an der Zeit, dass gründliche Kenntnis über diese Verfolgtengruppe Teil unserer Erinnerungskulturen wird. Ich unterstütze die Petition, dass homosexuelle Opfer in einer eigenen Gedenkstunde im deutschen Parlament am 27. Januar 2021 anerkannt werden.”

Die Unterstützung der polnischen Historiker*innen ist besonders mutig, da die gegenwärtige rechtspopulistische Regierung in Polen nach den Richtern auch andere Berufsgruppen „auf Linie“ bringen will: Derzeit wird von allen polnischen Gedenkstätten, auch Auschwitz, gefordert, eine Erinnerung darzustellen, die konform ist mit polnisch nationalem Denken.

Bis heute gibt es in der Gedenkstätte, die weltweit als das Symbol nazistischer Vernichtungspolitik gilt und jährlich von rund 2 Millionen Menschen besucht wird, keine Informationen zum Leid der Häftlinge mit dem Rosa Winkel.

Steinmeier gibt ein Zeichen, das Mut macht

Seit unserer ersten Petition am 15. Januar 2018 hat sich weltweit die Situation für Millionen Menschen, die sich zu den LGBTIQ-Minderheiten zählen, erneut verschlechtert: Mehr Morde, Todesstrafen, Folter und Verfolgungen als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. So ist seit dem 1. Januar 2019 Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens. Noch vor der Wahl erklärte er: "Ich könnte keinen schwulen Sohn lieben. Ich hätte lieber, dass er bei einem Autounfall sterben würde." Brasilien ist der fünftgrößte Staat der Erde mit über 200 Millionen Einwohnern.

Zu den erfreulichen Ausnahmen zählt bisher der kanadische Premierminister Justin Trudeau, der sich am 29. November 2017 gegenüber allen homosexuellen Frauen und Männern und anderen sexuellen Minderheiten  für erlittenes Unrecht entschuldigte.  Premierminister Trudeau wurde mehrfach von stehenden Ovationen des gesamten Parlaments unterbrochen.

Vielen Menschen Mut machte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der am 3. Juni 2018, zum zehnjährigen Bestehens des Denkmals für homosexuelle Opfer im Berliner Tiergarten, um Vergebung bat: „Es ist wahr: Das aufrichtige Erinnern an diese schreckliche Zeit, vor allen Dingen an die Opfer und ihr Leid, das ist uns Deutschen nie leicht gefallen, weder im Osten noch im Westen...Aber: Sich zu korrigieren, sich ehrlich an die Geschichte zu erinnern – und sich nötigenfalls auch zu entschuldigen, wenn Unrecht geschehen ist: das sind große Stärken der Demokratie.“

Bundestagspräsident Schäuble und Bundestagsvizepräsident Friedrich können nur gewinnen, wenn sie ihre blockierende Haltung verändern.  Und mithelfen, zu lange bestehendes Unrecht endlich nicht mehr zu verlängern.

Der Autor ist Historiker und gehört zu den Initiatoren der Petition an das Bundestagspräsidium.

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