zum Hauptinhalt
Im Schatten. Offen zu leben ist für queere Menschen in Afghanistan unmöglich (Symbolbild).

© AFP

Queere Menschen in Afghanistan: Gefangen in der Hölle

Das Leben für queere Menschen in Afghanistan war nie einfach. Seit der Machtübernahme durch die Taliban ist es unerträglich - und nicht alle können fliehen.

„Ich hatte jeden Tag Angst. Angst um mein Leben. Angst davor, dass die Taliban nicht nur mir, sondern auch meiner Familie etwas antun könnten“, erzählt Amir. Amir ist Mitte 30 und heißt eigentlich anders. Obwohl er in einem europäischen Land lebt, möchte der gebürtige Afghane anonym bleiben. Selbst im Exil ist die Angst davor, erkannt zu werden, zu groß. „So etwas wie ein normales Leben gab es für mich nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr“, erzählt er beim Videocall-Interview.

Das lag nicht daran, dass Amir eine Straftat begangen hatte – zumindest nicht einem säkularen Verständnis nach. Er lebte in Todesangst, weil er schwul ist. Laut der Auslegung der Scharia durch die in Afghanistan regierenden Taliban ist das verboten.

Ein Richter der militanten Islamisten sagte bereits vor der Machtübernahme, dass homosexuellen Männern die Todesstrafe drohe; entweder durch eine Steinigung oder eine herabfallende Mauer.

Mehreren Medienberichten zufolge machen die Taliban, seit sie die Herrschaft übernommen haben, gezielt Jagd auf die LGBTI-Community. Die Islamisten sollen dabei systematisch nach queeren Menschen suchen, die sich versteckt halten. Wie bestialisch sie vorgehen, wird in einem Bericht der NGO Human Rights Watch in brutaler Ausführlichkeit beschrieben. Betroffene berichten von Todesdrohungen, Folter und Gruppenvergewaltigungen.

Amir musste schon immer einen Teil von sich verstecken

Amirs Leben war, wie das Leben vieler anderer queerer Menschen, bereits in der Zeit vor dem Regimewechsel nicht einfach. Denn als schwuler Mann in Afghanistan zu leben, bedeutete schon immer, einen Teil von sich verstecken zu müssen. Ein Coming-Out, also anderen Leuten von seiner Homosexualität zu erzählen, war für Amir unvorstellbar.

Stattdessen heiratete er eine Frau, bekam mehrere Kinder. Doch trotz Amirs Alibi vermutete manch einer, dass er schwul sein könnte. Denn er arbeitete in Afghanistan oft mit Frauen zusammen – konkreter soll es an dieser Stelle nicht werden. „Das hat einige Leute stutzig gemacht.“

[Mehr Neuigkeiten aus der queeren Welt gibt es im Queerspiegel-Newsletter des Tagesspiegel, der zweimal im Monat erscheint - hier geht es zur Anmeldung.]

Dass ein schwuler Mann eine Frau heirate, sei in Afghanistan keine Seltenheit, erklärt Zohra Mousavi von der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association Asia (ILGA Asia). Die Nichtregierungsorganisation setzt sich dafür ein, queere Menschen aus Afghanistan in sichere Drittländer zu bringen.

Ächtung durch Familie und Freunde

„Wer vor der Machtübernahme als homosexuell identifiziert wurde, dem drohten nicht nur die Ächtung durch Familie und Freunde, sondern auch Gefängnisstrafen und Gewalt durch Polizisten“, erklärt die Projektkoordinatorin. Deshalb hätten sich viele queere Afghan*innen dazu entschieden, ihre Sexualität geheimzuhalten. Ein offen queeres Leben hat es laut Mousavi in Afghanistan nie gegeben, alles habe sich im Verborgenen abgespielt.

So war das auch für Amir. In jüngster Zeit hatte er überhaupt keinen Kontakt zu anderen schwulen Männern. „Ich hatte zu viel Angst, von anderen erkannt zu werden.“ Doch er konnte vor der Machtübernahme durch die Taliban einer Arbeit nachgehen, die er mit Liebe ausübte. Er konnte gemeinsam mit seiner Familie ein Leben führen, das zumindest nach außen hin Normalität suggerierte.

Dass die Taliban versuchen, Afghanistan gesellschaftlich in die Steinzeit zu katapultieren, bekommen vor allem marginalisierte Gruppen zu spüren: Frauen und Queers.
Dass die Taliban versuchen, Afghanistan gesellschaftlich in die Steinzeit zu katapultieren, bekommen vor allem marginalisierte Gruppen zu spüren: Frauen und Queers.

© AFP

Doch seit dem 15. August 2021 ist für die Bürger*innen Afghanistans alles anders. An diesem Tag nahmen die militant-islamistischen Taliban Kabul ein. Heute ist die Wirtschaft des Landes am Boden, viele Afghan*innen haben ihre Jobs verloren und hungern. UN-Generalsekretär António Guterres sprach im Januar von Familien, die ihre Säuglinge verkauften, damit die restlichen Kinder ernährt werden könnten. Familien würden ihr letztes Hab und Gut verbrennen, um nicht zu erfrieren.

Die Taliban katapultieren das Land gesellschaftlich in die Steinzeit

Dass die Taliban versuchen, Afghanistan auch gesellschaftlich in die Steinzeit zu katapultieren, bekommen vor allem marginalisierte Gruppen zu spüren. Die Islamisten versuchen, Frauen so gut es geht aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Queeren Menschen wie Amir machen sie das Leben zur Hölle. Mousavi von ILGA Asia berichtet im Videocall von einem homosexuellen Paar, mit dem die Organisation derzeit in Kontakt stehe.

M. und R. nennt sie die Projektkoordinatoren, um sie nicht identifizierbar zu machen. Die beiden seien bereits ein Jahr vor der Machtübernahme durch die radikalen Islamisten ein Paar gewesen, hatten mit der Familie von R. zusammengelebt. Die Familie wisse, dass sie ein Paar sind; das Zuhause sei für beide ein sicherer Zufluchtsort, ein Safe Space, gewesen.

M. und R. mussten ihr Zuhause verlassen

Doch nachdem die Taliban einmarschierten, hätten beide ihr Zuhause verlassen müssen. Zu groß sei die Angst vor den radikalen Islamisten und ihrem Vorgehen gegen queere Menschen gewesen. Seitdem hätten R. und M. kein eigenes Dach über dem Kopf mehr. Zudem gehe ihnen das Geld aus. Laut Mousavi können sie sich bald nicht mal mehr ihre Handykosten leisten. Der Kontakt zur Hilfsorganisation wäre damit abgebrochen; R. und M. wären komplett auf sich alleine gestellt. Das Paar wünscht sich derzeit einfach nur, was Amir bereits geschafft hat: das Land zu verlassen – und zwar so schnell wie möglich.

„Um die Menschen in sichere Drittländer zu bringen, müssen wir mit den Regierungen zusammenarbeiten“, erklärt Mousavi von ILGA Asia. Derzeit konzentriere sich die Organisation darauf, queere Menschen in Afghanistan finanziell zu unterstützen. „Das Einzige, was uns davon abhält, die Menschen in Sicherheit zu bringen, ist das zögernde Handeln der Regierungen.“

Deutschland verkündete, „mehr als 80 afghanische LSBTI-Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger“ in Deutschland aufnehmen zu wollen. Der Lesben- und Schwulenverband begrüßt diesen Schritt zwar. Gleichzeitig pocht die Organisation allerdings darauf, dass nicht nur Aktivist*innen evakuiert werden, sondern so viele queere Menschen wie möglich. Auch Mousavi sagt, dass 80 Menschen viel zu wenige seien.

Amir schaffte es mit einer NGO nach Europa

Amir schaffte es mithilfe einer NGO nach Europa – ohne seine Familie. Sie in Kabul zurückzulassen sei schwer gewesen. Doch die Gefahr, von den Taliban gefunden zu werden, war für Amir zu groß. Mittlerweile wurde auch die Familie evakuiert und nach Deutschland ausgeflogen.

Sobald er ein Visum bekommt, möchte Amir seiner Frau und den Kindern folgen. Ob er ihnen von seiner Homosexualität erzählen wird, weiß er nicht. „Sie sind mit diesem Thema überhaupt nicht vertraut. Vielleicht müssen ein paar Jahre vergehen, bevor ich mich ihnen anvertraue“, sagt er.

Ein Coming-Out scheint aber auch keine Priorität zu haben. Amir ist einfach glücklich darüber, dass er bald gemeinsam mit seiner Familie in Sicherheit leben kann.

Zur Startseite