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Héloïse (Adèle Haenel, links) sitzt der Malerin Marianne (Noémie Merlant) Modell.

© Alamode

Regisseurin Sciamma im Interview: „Wir haben einen Kulturkampf begonnen“

Manifest des weiblichen Blicks: Céline Sciamma über ihren Historienfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, MeToo in Frankreich und queere Sichtbarkeit.

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In Frankreich wird die 1978 geborene Céline Sciamma bereits als neue feministische und vor allem queere Stimme des französischen Kinos verehrt, in der Tradition von Claire Denis und Catherine Breillat. Hierzulande ist die Regisseurin („Tomboy“, „Mädchenbande“), die ihre Drehbücher selbst schreibt, noch weitgehend unbekannt. Mit ihrem vierten und bisher schönsten Spielfilm dürfte sich das ändern. Beim Filmfestival von Cannes gewann die historische Liebesgeschichte zwischen der jungen Malerin Marianne und ihrem Modell Héloïse, der Tochter einer französischen Adelsfamilie, den Drehbuchpreis. Zwischen der schroffen Landschaft der bretonischen Küste und den vom Kerzenschein erleuchteten Interieurs einer alten Villa entwirft der Film eine Utopie von Solidarität und weiblichem Begehren, in der die Protagonistinnen Marianne, Héloïse und das Dienstmädchen Sophie selbst die Klassenschranken überwinden.

Frau Sciamma, „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist Ihr erster Historienfilm, er spielt einige Jahre vor der Französischen Revolution. Warum ist diese Epoche für Ihre Geschichte von Bedeutung?
Mein Interesse an diesen Jahren kam aus der Kunstgeschichte. Zu der Zeit gab es ungewöhnlich viele Malerinnen, Hunderte in Frankreich und in ganz Europa. Die Biografien dieser Frauen zu entdecken, die erfolgreiche Karrieren vorzuweisen hatten, hat mich sehr bewegt. Sie unterstützten sich gegenseitig und waren sehr politisch. Es gab damals zum Beispiel schon eine feministische Kunstkritik.

Noémie Merlant spielt die Künstlerin Marianne, die ein Porträt der adligen Tochter Héloïse malen soll. Es gibt zwei zentrale Themen: die Repräsentation von Malerinnen in der bürgerlichen Gesellschaft und der weibliche Blick – und wie sich dieser in der damaligen Kunstwelt wiederfindet. Inwiefern sind diese Themen verknüpft?
Als ich mich eingehender mit dem Œuvre von Malerinnen im späten 18. Jahrhundert beschäftigte, wurde mir bewusst, wie sehr die weibliche Perspektive in der Kunstgeschichte fehlt. Das bedeutet für mich den schmerzvollsten Verlust, der mit der Auslöschung des weiblichen Blicks einherging: einerseits die Kunstwerke selbst, aber auch das, was Kunst in unser aller Leben bringt, die Erinnerung an eine Art von Intimität.

Marianne basiert auf keiner bestimmten Malerin. Ist sie dennoch eine typische Frau ihrer Zeit?
Ich habe mit einer Kunstsoziologin zusammengearbeitet, die intensiv zu dieser Epoche geforscht hat. Alle biografischen Details von Marianne entsprechen der Zeit, in der sie lebte. Die Dynamik des Biopics – eine erfolgreiche Frau, die den gesellschaftlichen Verhältnissen trotzt – hat mich nie interessiert. Mein Film ist ein Manifest des weiblichen Blicks. In diesem Prozess steckt aber auch eine Melancholie, weil wir etwas wiederherstellen müssen, was lange ignoriert wurde.

Inwiefern Melancholie?
Es macht mich traurig, weil mir diese Perspektive mein Leben lang vorenthalten worden war. Darum ist mir die Szene, in der Marianne, Héloïse und das Dienstmädchen Sophie eine Abtreibung nachstellen, für den Film so wichtig. Indem Marianne eine Abtreibung malt, wird die Handlung zu Kunst und ist damit repräsentiert. Die Kunst gibt den Frauen die Möglichkeit, ihre eigenen Geschichten zu überliefern. Aber es geht nicht nur um die Vergangenheit. Das Thema Abtreibung ist im Kino immer noch nahezu unsichtbar.

Wie gehen Sie als Autorin und Regisseurin mit dem Fehlen von weiblichen Perspektiven um?
Mir war der Mangel an queerer und lesbischer Repräsentation im Kino früh bewusst. Gefährlich wird es aber, wenn wir nicht mehr realisieren, dass uns etwas vorenthalten wird. Ich habe das wieder gemerkt, als ich „Wonder Woman“ von Patty Jenkins sah. Es ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl, zu wissen, dass man nicht repräsentiert wird, und gleichzeitig keine Vorstellung davon zu haben, welche Macht es einem verleihen kann, sich selbst im Kino zu erkennen. Das war für mich eine neue Erfahrung.

Die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma.
Die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma.

© Claire Marthon

Sie waren eine der Initiatorinnen der Bewegung 50/50 by 2020, die sich für ein paritätisches Geschlechterverhältnis auf Festivals und in der Filmindustrie einsetzt. Was erwarten Sie von Cannes im nächsten Jahr?
Ich bin zufrieden, dass das Thema nun ernst genommen wird. Wir haben unsere Forderung als Ziel für Cannes formuliert und wollen mehr Transparenz bei den Auswahlkommissionen. Um das tatsächlich zu erreichen, müsste man aber Quoten einführen. Aber Jahr wird der Vorstand erneuert, wir werden sehen, wie das läuft. Wir haben einen Kulturkampf begonnen. Besonders wichtig ist mir unsere Inklusivitätsarbeit. So hat 50/50 im vergangenen Jahr zusammen mit der französischen Filmförderungsanstalt CNC einen Fonds für die kulturelle Diversität von Produktionen geschaffen. Filmen von Regisseurinnen steht meist weniger Geld zur Verfügung, diese Ungleichheit wird dadurch ein wenig korrigiert. Bereits über 20 Filme haben von dem Fond schon profitiert.

Einerseits gibt es solche Fortschritte, andererseits bewegt sich vieles auch schon wieder rückwärts. Sehen Sie das ähnlich?
In Frankreich hatten wir keine MeToo-Debatte, wie sie etwa in den USA geführt wurde. Sie wurde sehr schnell gekapert und umgedeutet zu einer Diskussion über Meinungsfreiheit: dass feministische Filmkritik zu einer neuen Form von Zensur führe. Man fühlt diesen Backlash in Frankreich. Ein gutes Beispiel: Sandra Muller, Gründerin der französischen MeToo-Bewegung „Balance ton Porc“, hat gerade einen Verleumdungsprozess verloren. Geklagt hatte der Mann, dessen übergriffige Äußerungen sie öffentlich gemacht hatte. Das Niveau des gesellschaftlichen Dialogs ist in Frankreich nicht auf dem Niveau, auf dem es sein sollte.

Die junge Adelige Héloïse (Adèle Haenel) an der bretonischen Küste.
Die junge Adelige Héloïse (Adèle Haenel) an der bretonischen Küste.

© Alamode

Sie machen vor, wie es geht: An Ihren Sets arbeiten überwiegend Frauen.
Es schafft definitiv eine andere Atmosphäre. Aber ich verrate Ihnen etwas: Frauen machen auch nur 50 Prozent der Crew aus, mein Drehteam gehört wahrscheinlich zu den diversesten in Frankreich. Claire Mathon ist meine Kamerafrau, aber mit ihr arbeiten viele Männer. Mein Cutter ist wiederum ein Mann. Es kommt auf die Mischung an. Die Filmwelt ist total männlich dominiert, ich dagegen möchte niemanden ausschließen.

Sie haben etwas Ähnliches in Cannes über ihren Kollegen Abdellatif Kechiche gesagt, der für seinen voyeuristischen Blick auf Frauen, etwa in dem Palmen-Gewinner „Blau ist eine warme Farbe“, kritisiert wird. Wollen Sie ein Kino, in dem Ihr und sein Blick nebeneinanderstehen können?
Wir müssen uns unserer Perspektive bewusst werden. Ich werde in Frankreich ständig nach meinem weiblichen Blick gefragt, aber niemand fragt einen Filmemacher je nach seinem männlichen. Der wird immer noch als genderneutral angesehen. Natürlich kannst du „Blau ist eine warme Farbe“ genauso lieben wie „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, sonst würde das Kino ja zum Schlachtfeld der Ideologien. Wir müssen die Bilder bloß richtig lesen lernen. Ich möchte Abdellatif Kechiche zu diesem relativ jungen Diskurs einladen. Ihm sollen aber dieselben Fragen gestellt werden wie mir.

Sie nennen „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ein Manifest des weiblichen Blicks. Was kann man sich darunter vorstellen?
Es beginnt schon mit dem Drehbuch. Ich wollte eine Liebesgeschichte auf Augenhöhe erzählen, im Film gibt es kein genderspezifisches Machtgefälle. Das war mir wichtig, besonders für eine Zeit, in der Geschlechterungleichheit der gesellschaftliche Normalzustand war. Zudem besteht zwischen Marianne und Héloïse keine intellektuelle Überlegenheit, sie entstammen beide höheren Klassen, sind weltgewandt und selbstbestimmt. Zwischen ihnen muss nicht erst ein Status verhandelt werden.

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Welche Rolle spielen dabei Ihre Darstellerinnen?
Ich habe den Film für Adèle Haenel geschrieben. Aber es funktioniert nur, wenn sie auch eine ebenbürtige Partnerin hat. Noémie Merlant ist etwa im selben Alter wie Adèle, sie sind sogar gleich groß, was im Kino nicht zu unterschätzen ist. Nicht umsonst werden kleine Darsteller oft auf ein Podest gestellt. All diese Überlegungen sind politisch, aber sie sind auch ein Angebot ans Publikum: für neue Empfindungen, für Überraschungen. Gleichheit schafft Freiräume, weil soziale Regeln aufgehoben sind.

Da Marianne, Héloïse und Sophie fast die Hälfte des Films unter sich bleiben, sind sie keinem männlichen Blick ausgesetzt. Sie können sich frei bewegen.
Darum verstehe ich meinen Film auch nicht als soziale Utopie. Jede Utopie beruht auf unseren Erfahrungen und Vorstellungen. Diese Solidarität unter Frauen ist nicht leicht zu finden, man muss sich diese Räume erschaffen. Darum habe ich mich dafür entschieden, auf eine männliche Figur zu verzichten. Auch das, was ich aus der filmischen Einstellung ausschließe, definiert das, was im Bild zu sehen ist. Darin liegt die Macht des Kinos.

Ihr Film handelt von der Sichtbarkeit der Frauen. Sie erzählen sich, wie sie die andere sehen – und schaffen so ein Bild von sich. Gleichzeitig entwickeln sie durch ihre Blicke ein Begehren füreinander Wie erzeugen Sie dieses Gefühl von Intimität?
Wir offerieren eine Philosophie und Politik der Liebe. Selbst die Darstellung queerer Sexualität beruht im Kino auf einem heterosexuellen Paradigma. Wir mussten erst lernen, diesen Blick auf uns zu dekonstruieren. Genauso geht es aber auch um die Abschaffung des überholten Ideals der Muse. Natürlich gibt es am Set eine Hierarchie, aber wir haben versucht, die Arbeitsbeziehungen im Film auf unseren Dreh zu übertragen.

Alle Ihre Filme haben queere Aspekte. Hatten Sie deshalb je Probleme, Ihre Filme zu finanzieren?
Nein, das liegt aber auch daran, dass ich nicht viel Geld brauche. „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ kostete vier Millionen Euro. Hätte ich nach zwölf Millionen gefragt, sähe es vielleicht anders aus. Ich kann mich nicht beschweren: Ich lebe in einem Land, in dem ich diese Filme machen und radikal sein kann. 23 Prozent der französischen Kinofilme stammen von Regisseurinnen.

Man hat das Gefühl, es waren in letzter Zeit wieder mehr.
Nein, die Zahl ist seit 20 Jahren konstant. Nur werden wir immer wieder vergessen und dann „wiederentdeckt“. Nehmen Sie Alice Guy Blanché, die schon zur Zeit von Méliès Filme drehte. Sie machte alles selbst, benutzte als Erste Nahaufnahmen. Sie hat das Kino quasi miterfunden. Doch wie all die Frauen, die zu Beginn der Filmgeschichte aktiv waren, wurde sie verdrängt, als es plötzlich um Geld ging.

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