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Verschlossen: Tumblr verbietet Erotikfotos.

© dpa-Bildfunk

Tumblr verbietet Ü18-Inhalte: Warum sehe ich nur weiße Nackte?

Der Blog-Dienst Tumblr verbietet Nacktfotos: Minderheiten, queere Stimmen und Körper werden dadurch im Netz noch unsichtbarer. Ein Selbsterfahrungsbericht.

Ein Bildersturm, fast über Nacht: In dieser Woche hat der Blog-Dienst Tumblr alle Ab-18-Inhalte ausgeblendet. Angekündigt wurde das erst vor zwei Wochen, im Anschluss daran verbot Facebook Phrasen wie „I’m looking for a good time“, mit denen Prostituierte nach Freiern suchen.

Der Hintergrund: Im März stimmte der US-Kongress für FOSTA-SESTA, ein Gesetzpaket, das Menschenhandel einschränken soll. Auch Plattformen werden damit zur Verantwortung gezogen, falls Nutzer*innen illegal handeln. Verizon, seit 2017 Eigentümer von Tumblr, hat Angst vor Strafzahlungen, sobald von Dritten hochgeladener Inhalt gegen Gesetze verstößt.

Für marginalisierte Gruppen, Fetisch-Communities, Fandoms und viele Teenager ist Tumblr ein Ort für Vernetzung, Politisierung, Experimente. Sexarbeiter*innen und Menschen, denen Online-Fans beim Überleben helfen, schufen sich dort Geschäftsgrundlage oder Visitenkarte. Vieles, was ich über Mental Health, Asexualität, Bondage, Polyamorie, schwulen US-Jargon oder queere Fanfiction weiß, lernte ich in Tumblr-Postings, -Kettenbriefen und -Cartoons.

Pornografie nur noch kompromisslos kommerziell

„Wenn es keinerlei gut verbreiteten, einfach zu bedienenden und nicht männlich dominierten Community-Services mehr gibt“, schreibt Johnny Haeusler auf Wired.de, „die auch Inhalte für Erwachsene zulassen, dann finden Erotik und Pornografie nur noch bei den kompromisslos kommerziell geleiteten Anbietern statt, die nach der Maxime ‘härter, schneller, lauter!’ agieren.“ Was hier verloren geht, sich anderswo im Netz neu aufbauen muss, ist kein kleiner Verlust.

Doch so verstört ich als Tumblr-Blogger und -Konsument über Millionen getilgte meist nicht-kommerzielle Ab-18-Inhalte, -Kultur und -Fotos bin: Das System Tumblr zeigte mir täglich, wie Netzwerke Rassismus fördern. Seit 2013 gab ich Likes, Herzchen für alles, das ich sexy finde. Kurz vor der Umstellung sah ich noch einmal durch meine 20.000 Faves. Die Aussage „Nur weiße Männer und Frauen reizen mich“ ist falsch. Warum likte ich dennoch kaum nackte Menschen of Color? Menschen mit Behinderung? Trans Menschen?

Ein Mosaik meines Rassismus’

„Bin ich Rassist?“ ist keine sinnvolle Frage: Ich lebe in einer rassistischen Kultur. Ich lernte in einem Bildungssystem, in dem viele Stimmen nie gezeigt, erklärt oder voll genommen wurden. Die meisten Perspektiven fehlen mir bis heute. Im Alltag, im Beruf, in Büchern, Filmen, Serien. Und: beim Masturbieren.

Twitter trifft Pinterest“ greift arg kurz - doch fasst, wie sich auf Tumblr Fotos, Kunst (und Texte und Memes) leichter streuen, collagieren, bekannt machen lassen als auf jeder anderen Plattform. Als Tumblr-Nutzer kann ich jedes Profil abonnieren und mir alle Beiträge von dort im Feed anzeigen lassen. Und jeden Inhalt (ganz wie Retweets auf Twitter) rebloggen: jeden fremden Beitrag meiner Wahl auf meiner eigenen Seite teilen; mit Anmerkungen oder originalbelassen.

Für Fans von Kunst, Mode, Pop, Visuellem heißt das: Ich kann collagieren, kuratieren - ohne dafür Fotos stehlen zu müssen, Urheberrecht zu verletzen. Die Motive bleiben als „deep link“ im Profil des Ur-Beitrags gespeichert, streuen sich aber bei Gefallen über Tausende Blogs. In fast jedem Blog zeigt eine Seite namens „Archiv“ all diese Original- und Reblog-Beiträge als eigenes Bild-Mosaik. Je nach Bildschirmgröße kann ich ohne Scrollen die letzten 100, 200 Fotos sehen - und meine Favoriten mit einem Klick liken oder auf meine eigene Seite, in mein eigenes Archiv rebloggen. Ein Paradies für „Lookbooks“, „Vision Boards“, Ästhetik. Und für Pornografie.

Ein Foto - gestreut in 20.000 Kontexte, Galerien

Wer Tumblr-Archive öffnet, kann daraus viel lesen: Was findet der Kurator, die Kuratorin sexy? Relevant? Werden humorvolle, selbstironische Inhalte geteilt: Kitsch, schwule Camp-Kultur, Historisches? Geht es um Statussymbole und Reichtum; oder auch um Schmuddel, Widerstand, Punk? Zählen Ideale, Normschönheit, Hochglanz? Und Body Positivity: Körper und Motive, die Normen in Frage stellen? Künstler*innen nutzen Tumblr, um ihre Arbeiten zu präsentieren und zu streuen. Fan-Art, Basteleien, Pixel-Kunst, Scans aus alten Archiven und Magazinen - viel bunter, dynamischer, gemischter als zum Beispiel Instagram.

Ich bin recht gut darin, Profile und Blogs zu sehen: Teilt, empfiehlt, twittert ein „wichtiger“ Journalist auch Beiträge von Frauen - oder liebt er das Patriarchat? Ist eine Tier- und Umweltschützerin auf Facebook eher rechts oder eher links? Wer zeigt sich auf Planetromeo als queer - und wer nur als apolitischer „normaler Mann, der eben zufällig Männer liebt“? Ein Blick ins Archiv eines Tumblr-Blogs verrät viel darüber, wofür die kuratierende, rebloggende Person brennt. Nur zeigt meine eigene Reblog-Bildsammlung seit 2013: Ich brenne für weiße Menschen?

Wie meine Sexualität funktioniert, weiß ich dank Tumblr genauer

Der Blogdienst "Tumblr" verbietet Ab-18-Inhalte.
Der Blogdienst "Tumblr" verbietet Ab-18-Inhalte.

© imago/ZUMA Press

Social Media erfasst meine Sehnsüchte und Vorlieben, mein Kaufverhalten, meine Vorurteile und blinden Flecken. Lese ich fast nur Bücher aus meinem Kulturkreis? Höre ich auf Twitter mehr Männern zu als Frauen? Was like ich auf Instagram - und warum: Durch Nachzählen und Den-eigenen-Geschmack-in-Worte-Fassen sehe ich konkret, wie einseitig, bequem, ignorant ich oft im Altbekannten bleibe.

Gerade Netzwerke voller Bilder aber schulen mich, fordern heraus: Sie machen endlos Vorschläge. Was finde ich „schön“? Was langweilt mich? Welche Motive machen mich zornig oder verunsichern? Wie meine Sexualität funktioniert, was mich anspricht oder beklemmt, welche „Kinks“ mich affizieren, weiß ich oft erst genauer, seit ich auf Tumblr entscheide: Herzchen oder weiter? Folgen oder Ignorieren? Teilen? Blocken?

Fast jeder Beitrag dort ist mit Hashtags, Labels versehen. Schlanke Knaben heißen „Twinks“, Muskel-Boys „Hunks“, haarige, breite Männer „Bears“. Ich mag Leute mit Bart („Scruff“), die nicht besonders muskulös sind („Otter“). Warum aber sind in Scruff- oder Otter-Blogs fast alle Leute weiß?

#translatinootter, #disabledlatinoscruff

Weil die gesellschaftlichen Schieflagen, Ungleichheiten sich auch in digitalen Nischen zeigen - wie überall: Ein Umweltschutz-Forum kann von Sexisten wimmeln. Trans Männer werden auf Dating-Plattformen von queeren Männern gemobbt. Tumblr-Blogs, die Mosaike nackter Schwarzer anlegen, zeigen mir zu viele Gangster-Klischees und Der-edle-Wilde-Rassismen. Auf Blogs, die dicke, selbstbewusste Frauen feiern, fehlen mir Latinas. Auf Blogs, die Latinas feiern, fehlen mir Dicke. In einem Raum, der Missverhältnis X ausgleichen soll, bleibt Missverhältnis Y weiter bestehen - und umgekehrt.

Oft zimmern Musik-Fans Labels wie „Trance-Rockabilly Prog“, um durch exakte Schubladen Schnittmengen, Benachbartes zu entdecken. Als Buchkritiker feiere ich jedes neue Schlagwort. So albern Labels wie „Chicklit“ (leichte Unterhaltung über Frauen), „Sicklit“ (Krankheits-Liebes-Melodrama), “Up-Lit“ (optimistische Zerstreuung) klingen: Erst, wenn eine Sparte Hashtags streut, sind Fundstücke so präzise benannt, dass ich via Google Vergleichbares finde.

Kein Label muss exakt passen

Kein Label muss exakt passen: Im Zweifel lassen sich einfach immer weitere Unterkategorien anfügen. Wichtig? Dass genug Menschen die Verschlagwortung oft genug nutzen, dass ich passende Inhalte suchen oder abonnieren kann. Bei Filmen, etwa in der Advanced Search auf der Filmdatenbank IMDB, glückt das: Kanadische Serien, in denen Rollstühle vorkommen? Lassen sich binnen 90 Sekunden als Liste anzeigen, sortiert nach Bekanntheitsgrad, Filmlänge oder User-Wertung.

Auf Tumblr, für Sexuelles, glückt es nicht: Weil Race dort eine Kategorie, ein Fetisch ist, der mit allen anderen Kategorien konkurriert. Ich kann Latinos suchen - und finde dann unter dem Hashtag „Latino“ die selben Ungleichgewichte wie überall: mehr junge, dünne Latinos als alte oder dickere; kaum trans Latinos; kaum Latinos mit Behinderung. Doch Hashtags, so exakt, feinkörnig, dass sie nur zeigen, was ich suche, werden kaum verwendet: #translatinootter, #disabledlatinoscruff ergeben keine Treffer; und eine Suche nach zwei oder mehr Hashtags, etwa „#latino #scruff #trans“, ließ Tumblr technisch nie zu.

Bitte nicht nach Ethnie sortieren!

So werden Attribute wie Race oder Behinderung zum einzigen, viel zu weit gefassten gemeinsamen Nenner: Ein Netz-Freund (dreitagebärtig, ottrig, sexy) fotografiert sich nackt im Rollstuhl - doch seine Fotos werden nie auf Otter- und Scruff-Blogs geteilt. Sondern nur auf Blogs, die Behinderung zum Fetisch machen: Dort sitzt er neben Muskelmännern mit Krücken oder 18-jährigen, denen man die Beine via Photoshop entfernte. Ein Amputations-Fetisch, der mich so abstößt, dass ich keinem dieser Blogs folge - und deshalb fast nie nackte, körperlich behinderte Menschen in meiner Timeline, meinen Abonnements sehe.

Die Ausnahmen, wunderbaren Sammlungen entstehen auf Tumblr nicht durch Schlagworte oder technische Parameter. Sondern, weil Einzelmenschen mit viel Zeit besondere eigene Mosaike kuratieren. Etwa ein Blog von oft haarigen oder unrasierten Menschen mit femininer Kleidung, „Free to Dress: A boy can wear a fucking dress if they want“. Im von Selbsthass- und Erniedrigungs-Posen dominierten Hashtag #crossdress gehen solche souveränen, eleganten Bilder unter.

Ethnie als „Preference“?

Nicht nur für Kinks, sexuelle Vorlieben wären viel inklusivere Schlagworte wünschenswert - mehr Möglichkeiten, Hashtags müheloser an bestehende Inhalte anzufügen. Und Suchanfragen, die wie Venn-Diagramme funktionieren: „Google? Melde mir jeden Beitrag aus der Schnittmenge ‘Journalistin of Color’, ‘Interview’ und ‘Gentrifizierung’. Tumblr? Zeig mir, sobald bärtige nackte Männer auf Bühnen Gender-Klischees brechen - doch bitte nicht mehr als 30 Prozent davon weiß.“ Vielfalt geht online unter: Wie kann ich googlen, suchen, verschlagworten, abonnieren, um sie im Blick zu halten?

„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal was mit einem Asiaten haben würde“, musste Toan Nguyen, 32, hören: „Von fast jeder meiner Exfreundinnen.“ Wie viele Asiaten sah ich online? Wie viele trans Männer? Genug, um pauschal zu sagen: „Tja. Ist einfach nicht mein Beuteschema. Sorry“...?

Wortsalate in der Tumblr-Suche

Wie viele Menschen finde ich sexy - einen von 50? 100? Weniger! Wie schrecklich, sinnlos also wäre ein Tumblr namens „Nackte weiße Frauen“! Mein letzter Ex-Freund ist weiß, haarig, Brillenträger. Tumblr bot Hunderte „White Nerds“-, „Scruffy Otter“-, „Dorky Everyday Guy“-Blogs, die seinen Look als Schönheitsideal feiern

Mein erster Ex-Freund stammt aus Hong Kong - doch welchen Wortsalat müsste die Tumblr-Suche akzeptieren, damit ich verlässlich Fotos jenes Männertypus’ in der Timeline hätte? „Well-dressed stocky Asian proto-bearish scruffy hipsters“? Nein. Denn jedes dieser Attribute außer „Asian“ (also: „well-dressed“, „stocky“ usw.) leitet mich um auf Mosaike um, die Männer aus Asien meist völlig ignorieren.

Sind Schwarze Männer nur unter „Black Guys“, trans Männer nur unter „trans Guys“ zu finden, finde ich sie nicht: Sie müssen überall Platz finden. In allen Mosaiken. Allen Kinks! Jede Kink-Suche zeigt mir unter „Otter“ haarige weiße Männer. Was können wir tun, damit das „Weiß“ hier seine Ausschließlichkeit verliert: Ich „Otter“ eingebe und trans Otter sehe, Otter mit Behinderung, Otter jeder Ethnie?

„Öffentlich genug, um gesehen zu werden.“

Vex Ashley beschreibt Tumblr als „Anonym genug, um sich verletzlich zeigen zu können - doch öffentlich genug, um gesehen zu werden.“ Ich selbst teilte ab Ende 2016, nach Teilnahme an einem Berliner Kunstprojekt, gut 1000 Aktfotos von mir auf Tumblr. „Mir gefällt, wie du die Chose angehst“, schrieb mir ein Tierarzt trocken - und empfiehlt mir seitdem hin und wieder Lyrik. Ein Münchner lud mich ein, einen Keuschheitsgürtel zu testen. Einige Zehntausend Menschen, die etwas davon hatten, mich nackt zu sehen, konnten das via Tumblr tun. Für mich war es befreiend. Für meinen Alltag egal.

Seit über zehn Jahren mäste ich Musik-, Buch-, Foto-, Nachrichten- und Erotik-Dienste mit meinen Daten. Warum muss ich, sobald mir Vielfalt fehlt, noch immer stundenlang suchen, filtern? Ein Satz wie „Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Asiaten gibt, die ich sexy finde“ sagt: „Ich habe kaum je Asiaten gesehen. Hing in rassistischen Filterblasen, Mechanismen fest. Habe nie überlegt: Welche Labels, Schlagworte haben meine Vorlieben? Welche Suchfunktionen, Abonnements und Sperren brauche ich, um endlich alles zu sehen, was mich interessiert - an Menschen jeder Herkunft!“

Tumblr war bunter, vielfältiger und bedienfreundlicher als alle bisherigen Plattformen. Dass wir nun einen großen Schritt zurück machen statt endlich weitere nach vorn, trifft alle, die im Netz nach Bildern suchen - pornografischen wie künstlerischen.

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