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Religion und Familie. In ihren Bildern, Installationen und Erzählungen kommt Rachel Libeskind immer wieder auf diese Themen zurück. Hier steht sie in ihrem Atelier in Brooklyn.

© Pola Esther

Rachel Libeskind: Die Kunstgläubige

Das Jüdische Museum führte die Familie nach Berlin, wo Rachel Libeskind aufwuchs. In New York tritt sie nun mit eigenen Werken aus dem Schatten des Vaters.

Das härteste Kunstpublikum? Eine Gruppe pubertierender Privatschüler, die von ihrer Lehrerin nach Unterrichtsschluss in eine Ausstellung gezerrt werden. „Los, fotografiert ruhig und fasst die Dinger an“, sagt die Künstlerin Rachel Libeskind, die an diesem Nachmittag auch ein bisschen Pädagogin sein muss.

Ein freundlicher Befehl zum Nichtlangweilen. Die Mädchen und Jungs nähern sich zaghaft dem Tisch, auf dem sich „die Dinger“ stapeln: Bücher aus Beton, 30 Kilo schwer, rau, kalt, unlesbare Klumpen. Die Teenager fahren mit den Händen über die Oberflächen, niemand traut sich zuzupacken. Ist ja schließlich Kunst. Rachel Libeskind steht daneben und schaut genau hin. Eine der seltenen Gelegenheiten, ihr Publikum zu studieren.

Holy Trash: My Genizah“ hat Libeskind ihre Ausstellung genannt, für die sie vom Center for Jewish History in Manhattan beauftragt wurde. Weil Schriftstücke mit dem Namen Gottes nicht einfach weggeworfen werden dürfen, haben viele jüdische Institutionen ein riesiges Archiv: die Genisa. Also wühlte sich die 27-Jährige durch und entdeckte Bücher in hebräischer Blindenschrift.

„Für die allermeisten Menschen unmöglich zu lesen. Ich wollte es noch unmöglicher machen“, erklärt Libeskind den Schülern. Sie legte die Werke in einen Holzbehälter, übergoss sie mit Silikon, zog die getrocknete Negativform ab und füllte gefärbten Beton hinein. Heraus kam ein Friedhof der Literaturskulpturen, der jetzt in der großen Halle des Center for Jewish History ausgestellt ist. Holy Trash, heiliger Müll.

Was passiert mit den Büchern nach der Ausstellung?

Ein typisches Rachel-Libeskind-Projekt: Archive durchsuchen, Gegenstände bearbeiten, Geschichte transportieren. „Ich liebe Dinge“, sagt sie – ein Satz, der so banal wie reif erscheint.

Es sind mal Bücher, mal Dias, mal Teppiche, mal Koffer, die Libeskind zum Gegenstand ihrer Kunst macht. Sie ist fasziniert von Traditionen und Bräuchen, eine künstlerische Genealogin, und springt dabei von Plattform zu Plattform. Vor ein paar Monaten führte sie eine Live-Performance in London auf, im Sommer produzierte sie ein Video für ein Event in der Frankfurter Commerzbank-Arena, dazwischen lief eine weitere Ausstellung in einer New Yorker Galerie. Im vergangenen Jahr trommelte sie für Bernie Sanders und heiratete im Sommer ihren Freund, einen Immobilienentwickler, der aussieht wie der junge Trotzki.

Die braven Schüler sind mittlerweile aufgetaut, stehen im Kreis um Libeskind, die mit ihren 1,52 Metern wie so oft die Kleinste im Raum ist. Übersehen kann man sie nicht. Das liegt an dieser Körperspannung, die hat sie vom Gewichtheben, dazu der fokussierte Blick, die rasenden Worte, die amerikanisch weißen Zähne.

„Was passiert mit den Büchern nach der Ausstellung?“, fragt ein Mädchen. „Dann sind hoffentlich alle verkauft“, antwortet Libeskind. Ein paar Tausend Euro kostet jede Skulptur. Als die Kuratorin sie bittet, von ihrem Werdegang zu erzählen, legt Libeskind los: die Jugend in Berlin, der Umzug nach New York, ihre Großeltern, die den Holocaust überlebten, das komplizierte Verhältnis zum Judentum, ihre Zeit in Harvard. Ihren Vater, den großen Architekten, erwähnt sie nicht.

Sie ist mit ihrem Vater "on the same page"

Ja, dieser Name. Libeskind. Der steht nie ganz allein, ist weltweit mit Assoziationen beladen. Aber nirgendwo so sehr wie in Berlin und New York. In der einen Stadt baute Rachels Vater Daniel das Jüdische Museum, in der anderen entwickelte er den Masterplan für das neue World Trade Center. In der einen Stadt wurde Rachel Libeskind groß, in der anderen erwachsen. Und wenn sie so von ihrem Leben zwischen Richtfesten und Umzügen erzählt, dann meist in einem Deutschenglischhybrid. „Wir sind super on the same page“, sagt sie über ihren Vater, was natürlich heißen soll, dass sie auf derselben Wellenlänge liegen. „Ich bin eigentlich deutsch. Aber eigentlich überhaupt nicht“, sagt Libeskind – auf Deutsch.

Man kann Libeskinds Ausstellung als Mini-Rebellion gegen ihre Erziehung deuten. „In meiner Familie waren Bücher heilig. Bloß nicht die Seiten knicken, bloß nicht bekleckern, bloß nicht fallenlassen“, erzählt sie. „Was ich mit den Büchern gemacht habe, ist maximale Misshandlung.“ Beton gegen das Knicken und Kleckern.

Auf ihre Kindheit kommt sie immer wieder zurück

Vater und Tochter. 2003 bei der Eröffnung eines Atelierhauses auf Mallorca.
Vater und Tochter. 2003 bei der Eröffnung eines Atelierhauses auf Mallorca.

© p-a/dpa

Libeskind kam im Frühjahr 1989 zur Welt, da lebte die Familie noch in Mailand. Ein paar Monate später gewann Daniel Libeskind mit seinem Entwurf „Between the Lines“ den Wettbewerb für das Jüdische Museum, die Familie zog nach Berlin. Für Rachel Libeskind war das Jüdische Museum wie ein Familienmitglied. Wenn ihre Mutter Nina Führungen durch den kalten Rohbau gab, lief sie mit. Die Familie lebte in Charlottenburg, Rachel ging in Zehlendorf auf die zweisprachige JFK-Schule, wo sie von der britischen BBC als Cartoon-Sprecherin gecastet wurde, als Stimme der Hauptfigur in der britischen Sendung „Marvellous Milly“. In dieser Zeit entwickelte sie eine Leidenschaft für die Malerei und eine Aversion gegen die Bundesjugendspiele. „Ich war so superklein. Ich habe mir sieben Jahre hintereinander ein Attest geholt.“

Auf ihre Kindheit kommt sie immer wieder zurück, es hört sich nach einer Mischung aus Pippi Langstrumpf und Truman Show an: abenteuerlich, privilegiert. Und ein wenig verstörend. „In meiner Familie war es nicht erlaubt, sich zu langweilen“, sagt sie. Lies was! Mal was! Beschäftige dich! Bloß keine Gleichgültigkeit, kein Stillstand, keine Mittelmäßigkeit. Die Urlaube verbrachte die Familie in barocken Kirchen und nicht am Strand.

Eine Anekdote aus dem Winter 1999, Libeskind war damals zehn Jahre alt und der „Tagesspiegel“ hatte zu einem Weihnachtsgedichte-Wettbewerb aufgerufen, an dem auch ihre Schule teilnahm. Weil Weihnachten bei den Libeskinds nicht gefeiert wurde, musste die Viertklässlerin ihrer Lehrerin erklären, dass sie nichts beitragen könne. Doch die Lehrerin blieb stur, und so verfasste Rachel schließlich ein Gedicht, in dem eine Schneeflocke langsam an einem Fenster vorbeischwebt und einer glücklichen Familie bei der Bescherung zuschauen muss. Die Schneeflocke ist nicht nur ausgeschlossen, sie weiß auch, dass sie sterben wird, sobald sie den Boden erreicht. Für das Gedicht wurde Libeskind später ausgezeichnet, mit Preisverleihung in der Gedächtniskirche.

Sie wollte einen eigenen Weg zu ihrer Religiosität finden

„Ist das nicht eine unfassbar düstere Geschichte? Aber mir geht’s gut, keine Sorge“, sagt die 27-Jährige und lacht kurz und heftig. Am 9. September 2001 feierte das Jüdische Museum Eröffnung. Doch ein anderes Ereignis, nur einen Tag zuvor, war noch viel prägender. Die Zwölfjährige feierte Bat Mitzwa, was für ihre atheistischen Eltern befremdlich war. „Rachel war schon immer ein unabhängiger Charakter. Insofern passte die Entscheidung zu ihr. Sie wollte mit der Familientradition brechen“, sagt ihre Mutter Nina heute.

Rebellion in Form einer Bat Mitzwa? Sie habe einen eigenen Weg zu ihrer Religiosität finden wollen, sagt Libeskind. In ihrer Familie gab es 33 Rabbis. Um 1900 war es ihr Urgroßvater, der im Namen Liebeskind das E strich. „Er wollte nicht, dass die Leute denken, dass wir deutsch sind“, erklärt sie. Die Eltern ihres Vaters überlebten den Holocaust und wendeten sich komplett vom Judentum ab. „Sie sahen in der Religion die Wurzel all ihres Übels.“ Rachel Libeskind weiß immer noch nicht, ob sie religiös ist. „Aber ich weiß, dass ich ein großes Problem mit der Rolle der Frau im Judentum habe. Ich möchte meinen Feminismus nicht für die Religion opfern.“

Sie wirkt älter als 27, wie sie da, bei einem nächsten Treffen, so sitzt, in ihrem Studio, einem großen, hellen Loft, in Bedford-Stuyvesant tief in Brooklyn, eine Camel zwischen den Fingern, im Hintergrund läuft Nina Simone. In einer Ecke stehen Schaufensterpuppenköpfe, in der anderen eine graue Samtcouch, in der Mitte ein riesiger Holztisch. An der Wand hängen sechs Teppiche, die jeweils ein unterschiedliches Bild der Beschneidung Jesu Christi zeigen: ihre nächste Ausstellung. „Ich bin von der Geschichte um die heilige Vorhaut besessen“, sagt Libeskind.

Sie ging auf die Saint Ann’s, wie Lena Dunham und Vito Schnabel

Wäre es nach ihrem Vater gegangen, wäre auch sie Architektin geworden. Doch das wollte sie nie. „Man ist so abhängig von anderen. Ich habe meinen Vater leiden gesehen“, sagt sie. Ist es Druck, eine Libeskind zu sein? „Nein, ehrlich gesagt nicht. Es ist vor allem ein Privileg.“ Wenn man Rachel Libeskind nach ihrem Lieblingsgebäude fragt, sagt sie deshalb auch ohne zu zögern: „Das Jüdische Museum.“ Sie sieht ihre Eltern regelmäßig, und sie streiten sich regelmäßig. „Sie sind ältere, weiße, reiche Leute, die in New York leben. Sie haben ein anderes Bewusstsein, zum Beispiel, was den alltäglichen Rassismus betrifft.“ Es sei für sie außerdem schwierig gewesen, anzusehen „wie die Architektur meines Vaters an Radikalität verloren hat. Er ist kommerzieller geworden“.

2003 war es wieder ein gewonnener Architektenwettbewerb, der die Familie Libeskind umziehen ließ. Dieses Mal New York City, das neue World Trade Center. Auf der Saint Ann’s, einer kunstorientierten Privatschule in Brooklyn, das für seine Celebrity-Eltern und hohe Gebühren bekannt ist, fühlte sich Libeskind wohler als in Zehlendorf. „Man hat uns wie Erwachsene behandelt.“ Schauspielerin Lena Dunham, Kunsthändler Vito Schnabel und Modedesigner Zach Posen haben hier ihren Abschluss gemacht. Anschließend belegte Libeskind Französische Literatur in Harvard, bis ein Professor sie fragte, warum sie nicht Kunst studiere. „Ich habe gesagt, dass ich nicht im Schatten meines Vaters stehen will. Und der Professor meinte: Das ist kein guter Grund.“ Das saß. Sie wechselte das Hauptfach und machte 2011 ihren Abschluss in „Visual Arts“.

Noch eine Camel, dann zieht Rachel Libeskind ihren rechten Ärmel hoch. Von der Schulter bis zur Armbeuge zeichnet sich eine kurvige Narbe ab. Ein Skiunfall in der Schweiz vor vier Jahren. Sie lag da im Schnee, der Oberarm zersplittert, fast besinnungslos, und starrte ins Blau. „Ein erhabener Moment.“ Neun Monate konnte sie kaum arbeiten, danach begann sie mit Gewichtheben und hörte nicht mehr auf, es wurde eine Sucht. Typisch, dieser Drang, dieser Zwang.

„Lies was! Mal was! Beschäftige dich!“ – würden ihre Eltern sagen.

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