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Gert Mittring

© Mike Wolff

Rechenweltmeister Gert Mittring: „Ich habe als Schüler zu schräg gedacht“

Im Kopf zieht Gert Mittring aus 100-stelligen Zahlen binnen Sekunden die 13. Wurzel. Er plädiert für konstruktive Faulheit und warnt die Jugend vor digitaler Demenz.

Herr Mittring, Sie sind …

Es tut ja nichts zur Sache, aber an der Wand da hinten sind 42 Sitzhocker gestapelt.

Wie bitte? Tatsächlich! Um das zu sehen, haben Sie jetzt keine Sekunde gebraucht. Ist das Ihre Sicht auf die Welt, wenn Sie einen Raum betreten? Das muss ja furchtbar sein.

Im Gegenteil, das Verständnis für mathematische Zusammenhänge verbessert die Lebensqualität und lohnt sich auch im Alltag. Zum Beispiel, um einzuschätzen, ob sich ein Geschäftsabschluss rentiert. Das ist nicht so einfach, weil man im Vorhinein nicht weiß, welche weiteren Einflussfaktoren noch da sind. Und wie die zu gewichten sind. Das kann man in gewissem Maße lernen.

Bei Ihnen handelt es sich nicht um eine Alltagskompetenz, sondern um eine Extrembegabung: Sie sind neunfacher Rechenweltmeister, Sie stehen im Guinness Buch der Rekorde, unter anderem für die Fähigkeit, aus einer 100-stelligen Zufallsziffer die 13. Wurzel gezogen zu haben. Man nennt Sie Genie und lädt Sie als Kuriosum ins Fernsehstudio.

Ja, ja, aber im Prinzip ist es so, dass wir einen Verfall der Kulturtechnik Rechnen feststellen, da muss man dagegenhalten. Mathematische Beziehungen umgeben einen doch überall. Wenn beim Glaser die Scheiben nicht genau eingepasst sind, wird ein bisschen Wind die Scheibe eindrücken.

Die Studie „Bürgerkompetenz Rechnen“ beschreibt, dass ein höherer Bildungsabschluss offenbar nicht mit besserer Rechenfähigkeit einhergeht.

Faszinierend. Ich hatte die Aufgaben auch gesichtet. Da kam heraus, dass selbst Einser-Abiturienten Probleme haben, den Dreisatz anzuwenden. Mehr als jeder zweite hatte Probleme.

Woran liegt das?

Es ist etwas Wahres an dem Begriff der „Digitalen Demenz“: wenn man so viel wie möglich an die Technik delegiert. Natürlich ist es nicht verkehrt, sich aller möglichen Hilfsmittel zu bedienen, aber eine gewisse Intuition und ein Grundgefühl für das Schätzen und Erfassen von Größenordnungen sollte jeder beherrschen. Vertraut man sich zu sehr der Technik an, vergeht dieses Gefühl. Oder es entsteht gar nicht erst. Wenn auf einer Hotelrechnung eine Zehnerordnung falsch ist, muss man im Gespür haben, dass das nicht sein kann.

Ihnen wird vorgeworfen: Sie würden nicht mathematisch denken, sondern nur schnell rechnen.

Es gibt tatsächlich Personen, die über ein Wahnsinnsgedächtnis verfügen und unendlich viele Rechenkombinationen abgespeichert haben. Ich nenne das Gedächtnis-Rechnen, und mich törnt das nicht an. Ich würde mich unter die Kategorie der konstruktiven Rechner einstufen. Das heißt: So wenig wie möglich auswendig wissen und alles Weitere mit rein mathematischen Regeln erschließen.

Zum Beispiel?

Bei der Aufzeichnung für eine Sendung in Leipzig habe ich mal von einem Zuschauer die Aufgabe erhalten, man habe im Jahr Null einen Cent zu einem Prozent Verzinsung angelegt. Wie viel ist das 2013 Jahre später? Das ist eine faszinierende Schätzaufgabe. Manche würden den Betrag einfach mit 2013 multiplizieren, aber Sie müssen da schon konstruktivistisch überlegen und logarithmische Annäherungsformeln durchgehen. Ich habe gesagt, es sind ungefähr fünf Millionen Euro. Es waren dann 4,9 und noch was.

"Ich war kein so guter Schüler"

Gert Mittring
Gert Mittring

© Mike Wolff

Galten Sie in der Schule als Streber?

Nein, ich war kein so guter Schüler. Ich habe wahrscheinlich zu schräg gedacht. Das hat meistens für Distanz gesorgt und dann für Abwertung. Ich habe zum Beispiel Rechenwege weggelassen, weil ich sie als nicht so wichtig empfunden habe. Die Dinge haben sich so erschlossen, nach meinem Verständnis musste man sie nicht weiter ausformulieren. Aber Pädagogen wollen ja als Grundlage für ihre Bewertung irgendetwas Nachweisbares auf dem Papier.

Sie sind 1966 geboren und in den 70ern zur Schule gegangen – wären Sie heute Kind, würde man Sie mit Ihrem seltsamen Verhalten schnell für hochbegabt halten.

Die Tendenz besteht, dann muss man die Dinge im Detail anschauen. Wünschenswert wäre, dass ein Lehrer versucht, sich in das Gedankengebäude des Schülers hineinzuversetzen. Eine detektivische Arbeit. Er muss dafür sein gesamtes Annahmensystem relativieren und überlegen: Wie könnte es im Kopf des anderen ungefähr ablaufen? Das ist kaum leistbar, wenn 30 Schüler vor einem sitzen.

Der, der zappelt, ist hochbegabt.

Der Ruhigste war ich auch nicht. Das hört sich jetzt vielleicht furchtbar an, aber auch hier gilt das „Normalisierungsprinzip“: Ein Hochbegabter soll die Chance haben, so weit wie möglich an den normalen, alltäglichen Dingen teilzunehmen. Denn jeder wird zwangsläufig über seine gesamte Lebensspanne mit einem Alltag konfrontiert sein. Eine Elite-Einrichtung sollte nicht die Regel sein.

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie anders denken?

In der Klasse 10, das Mischfach, Wirtschaft und Soziales, Sachkunde. Ich erinnere mich: Die Geldmengen M1 bis M3 … Das war das Thema. Da habe ich auf Ungereimtheiten in der unangemessenen Darstellung der weltweiten Rüstungsausgaben hingewiesen. Ich habe das einfach überschlagen und den Wert dann viel höher eingeschätzt. Das war nur eingeschränkt willkommen. Eigenständiges Denken wird in der Schule schon fast als subversiv angesehen. Man reibt sich da nur auf, kommt nicht weiter und wird nachher sogar noch schlechter benotet. So kam mir das vor. Ich habe mich dann immer weiter zurückgezogen.

Viele hadern mit Mathematik in der Schule. Hatten Sie ein Horror-Fach?

Kunst. Da bin ich gezwungen worden, Bilder zu malen. Da war meine Karriere auch sehr kurz. „Mittring zeigt Ausfälle ins Kritzeln“, stand auf einem meiner Zeugnisse. „Ungenügende bildnerische Ausdrucksfähigkeit“. Das ist heftig.

Sie sagen, man solle möglichst alles selbst rechnen und möglichst wenig delegieren. Doch die meisten Erfindungen werden aus dem Bedürfnis nach Faulheit gemacht. Die Erfindung des Rades, der Waschmaschine, des Computers.

Natürlich ist es ganz gut, etwas zu delegieren, aber im Extremfall verliert man die Lebenstüchtigkeit. Ich bin für konstruktive Faulheit. Der Mathematiker ist in allen Punkten faul, mit einer Ausnahme: Er macht sich ganz viele Gedanken darüber, wie er am besten faul sein kann. Prominentes Beispiel ist die sogenannte „Vollständige Induktion“.

Was bitte?

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Tagung und jeder möchte jedem die Hand schütteln. Wenn zwei Leute da sind, gibt es genau einmal ein Handschütteln. Wenn es drei Leute sind, sind es drei: A mit B, A mit C und B mit C. Mit der vollständigen Induktion kann man eine Formel produzieren, die für alle Fälle eine entsprechende Anzahl ergibt. Das ist eine konstruktive Bequemlichkeit. Ich weiß ganz genau, wenn es n Leute sind, dann gibt n mal (n -1) : 2 Handschütteln. Das zu wissen ist einfach angenehm.

Wenn man also zu einer großen Hochzeit einlädt, könnte das Brautpaar für die Planung ausrechnen, wie lange die Begrüßung dauert.

Angenommen, wir hätten 100 Personen, dann liefe die Rechnung nach der obigen Formel wie folgt: 100 mal 99, gleich 9900, durch zwei, also 4950 Händeschütteln. Dauert jedes Händeschütteln eine Sekunde – was sehr schnell wäre – dann hätte man immerhin schon 82 Minuten und 30 Sekunden damit zu tun, allen die Hand zu geben, wenn alles hintereinander erfolgt. Wenn sich die Anzahl der Personen verdoppelt, ist der Zuwachs quadratisch. Dann dauert es nicht doppelt, sondern viermal so lang. So kann man also konstruktiv faul sein und die Gedächtnisbelastung minimieren.

Rechnen Sie auch die Versicherungstarife Ihrer Eltern durch, wenden sich Freunde an Sie mit Fragen zu ihren Rentenmodellen?

Gott sei Dank nicht.

Ihre Mutter ist Kirchenmusikerin.

"Meine Eltern hatten musikalisch mehr Hoffnungen in mich gesetzt"

Gert Mittring
Gert Mittring

© Mike Wolff

Ja, mein Vater hat auch Kirchenmusik studiert und ist dann Pfarrer geworden. Meine Eltern hatten musikalisch mehr Hoffnungen in mich gesetzt, aber alles, was verblieben ist, ist, dass ich ein bisschen Partituren lesen kann. Ich liebe es, Konzerte auf diese Weise mitverfolgen zu können.

Man hat sich angewöhnt, zwischen künstlerischer, sprachlicher und mathematischer Begabung zu trennen.

Das finde ich problematisch. Ich komme zu dem Ergebnis, dass es Menschen nicht guttut, wenn man sie pro forma in eine Kategorie einordnet …

… und daraus entwickeln sich ganze Schultypen, das humanistische, naturwissenschaftliche oder künstlerische Gymnasium.

Damit kommt man einem Menschen nicht entgegen. Man kann auch für mehrere Dinge veranlagt sein und sie alle herausfordern. Diese Schultypen neigen dazu, Vorurteile eher zu manifestieren.

Warum haben Sie trotz Ihrer Rechenbegabung nicht Mathematik studiert?

Ich war ja in der Schule mit dem Mathematik-Unterricht sehr unglücklich. Man glaubt als Schüler an das Urteil seiner Lehrer – und denkt dann: Dieses Fach werde ich nicht weiter im Fokus haben. Man kann ja sowieso nichts dran ändern und kommt erst mal gar nicht auf die Idee, zu zweifeln.

Heute sagen Sie, dass Rechnen auch die Lebensqualität steigert.

Ja, das ist einer der wesentlichen Motoren, diese Kulturtechnik zu verinnerlichen. Weil man dann die gesunde Kritik pflegt und nicht einfach alles ungefragt akzeptiert. Man kann Studien methodenkritisch lesen und stößt auf viele Ungereimtheiten. Vieles lässt sich ja zurechtbiegen und auch politisch zweckentfremden.

Hat schon einmal jemand versucht, Ihnen einen teuren Kredit als billig zu verkaufen?

Ach, bestimmt, aber wahrscheinlich passiert es mir immer seltener, weil ich inzwischen erkannt werde: Das ist der Typ, der rechnet. Da ist man zu Recht vorsichtiger.

Wie bereiten Sie sich auf Wettbewerbe vor?

Ich simuliere, was sein könnte. Mal kommt es hin, mal fallen die Aufgaben ganz anders aus. Das muss auch immer wieder sein, dass ich mich auch wieder herausfordere und messe. Ich brauche diese konstruktive Ungemütlichkeit gelegentlich.

Bei Ihrem berühmtesten Rekord, der 13. Wurzel aus einer 100-stelligen Zahl, hat ein Zufallsgenerator die Zahl bestimmt. Da konnten Sie sich ja schlecht vorbereiten. Sie haben das 2004 in zwölf Sekunden geschafft.

Ich wusste immerhin, dass die Zahl 100 Stellen hat und das Ergebnis ganzzahlig ist.

Wie halten Sie die Energie in einem Wettkampf?

Es gibt da einen Schokoladen-Händler, der im Internet Bruchschokolade verkauft, sehr lecker, Rohrohrzucker, hochwertig, sehr bekömmlich. Der hat mir gelegentlich Schokolade mitgegeben. Deren Cappuccino-Schokolade ist ausgezeichnet, auch die Nougat-Schokolade, die ist mein Liebling.

Sie können Schokolade als Arbeitsmittel benutzen?

Das kommt mir sehr gelegen. Man kann auch währenddessen essen, man produziert ja keine nennenswerten Geräusche. Im Regelfall hat man so dreieinhalb Stunden Zeit – so lange dauert ein Wettbewerb, in dem man die meisten Aufgaben schaffen soll. Es sind über 100 Aufgaben, manche davon sehr umfangreich.

Die Weltmeisterschaft in London, die „Mind Sports Olympiad“ findet jährlich statt?

Ja, und ich habe sie neunmal in Folge gewonnen, von 2004 bis 2012, aber im vergangenen August war ich extrem schlecht disponiert. Ich lief nicht rund und war nicht richtig konzentriert. Ich habe einen Vorzeichenfehler gemacht und meine Lieblingsaufgaben waren nicht da: ganz schwierige Wurzeln. Da konnte ich mich nicht richtig austoben. Ich habe Gold knapp verfehlt und bin Zweiter geworden.

Wie erkennen Sie bei anderen die Fähigkeit zu mathematischem Denken?

Die Hauptintelligenz ist die Fähigkeit, logische Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Das ist eigentlich alles. Es ist egal, in welchem Kontext das auftaucht. In der Sprache gibt es natürlich auch Regelhaftigkeiten. Grammatikalische Systeme haben in sich eine gewisse Logik – in Graden und mit Ausnahmen. Doch selbst in den Ausnahmen kann man Logiken entdecken, wenn man sich die Zeit dafür nimmt.

Trotz der Zweifel an der deutschen Rechenkunst gilt Deutschland weltweit als Land der Ingenieure. Wie passt das zusammen?

Erst mal sind wir ja froh, dass es so viele mathematische Wettbewerbe gibt. Aber es ist nur eine verschwindend kleine Gruppe, die sich ambitioniert da einbringt.

Werden die Deutschen ihren Ruf verlieren?

Wir sind schon relativ stark im Abseits. Ich denke, dass wir in der Grundlagenforschung noch ziemlich viel zu sagen haben. Aber in den Anwendungen sind wir nicht mehr so federführend. In Asien sind schon erhebliche Kapazitäten da, von denen wir nicht unbedingt etwas wissen. Äußerst intelligente Sachen kommen aus San Francisco. Ohne Mathematik hätte man nie die ganzen Handys konstruieren können.

Aber die reine Mathematik führt ja nicht zwangsläufig zum wirtschaftlichen Erfolg. 2003 hat zum Beispiel Norbert Herrmann eine Formel zum Rückwärtseinparken gefunden. Auch ein Mathematiker. Sein Problem war, dass sich Formeln nicht patentrechtlich schützen lassen. Das heißt, er hat die markttaugliche Erfindung der Einparkhilfe für sein eigenes Auto später auch noch bezahlen müssen.

Das tut einem wirklich leid.

Sie selbst sollen einmal in Las Vegas mit Pokern probiert haben, zu Geld zu kommen …

Everest-Poker hatte mich gebeten, das für sie zu machen. Das ist eine größere Firma, die auch Spielszenarien im Internet anbietet. Ich bin eigentlich gar keine typische Spielernatur. Man muss ja, wenn man im Profi-Poker spielt, an der Schnittstelle von Psychologie und Mathematik Modelle dritten Grades haben. Mit anderen Worten: Ich bilde mir ein Modell vom Modell des Gegenspielers. Bei einem Turnier in Las Vegas sollte ich starten, Startgebühr 1500 Dollar. Einmal hatte ich gemeint, ein super Blatt zu haben, bin dann aber doch flachgelegt worden. Es war interessant, eine schöne Erfahrung.

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