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© Gunnar Knechtel/laif

Marrakesch: Stille und Schönheit

Ein Riad, das traditionelle Wohnhaus Marokkos, gleicht einer wahren Oase in der bunten und lauten Stadt Marrakesch.

Naomi Campbell hat einen, Mick Jagger hat einen, ein Herr Berlusconi aus Italien hat sogar zwei davon: einen Riad in Marrakesch. Ein Riad ist ein marokkanisches Wohnhaus mit einem Innenhof, einem Brunnen und einem Dachgarten. Die verborgene Bauweise hinter hohen, dicken Stadtmauern und die ausschließlich nach innen weisenden Fenster machen diese Art zu wohnen zu einer geheimnisvollen, völlig ungestörten Angelegenheit. Mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut beobachten die Einwohner von Marrakesch einerseits den internationalen Ausverkauf und andererseits die Restaurierung ihrer historischen Bausubstanz.

Nach dem Ramadan steigt in jedem Jahr der Geräuschpegel in Marrakesch. Das Opferfest Aid al Kebir verlangt, dass jede Familie einen Hammel schlachte, man gibt Gott zurück, was er gegeben hat. Also kauft jeder, der es sich leisten kann, Schafe und transportiert sie auf Karren, Fahrrädern, Mofas oder zerrt sie an den Hörnern nach Hause, wo die Tiere bis zum Schlachten auf den Dachterrassen gehalten werden. Das tausendfache Bäääh übertönt tagelang sogar den Ruf des Muezzins von der Koutoubia-Moschee.

Wer früh kauft, den bestraft der Hunger der Tiere. Um diese fett zu halten, gehen die beim frühen Kauf gesparten Dirhams wieder drauf. Was beim Münchner Oktoberfest das „O’zapft is!“, ist in Marokko der Anschnitt eines lebenden Schafes durch König Mohammed VI. höchstselbst, live und in Farbe übertragen im Fernsehen. Danach gehen die Metzger mit scharfen Messern hilfreich von Familie zu Familie.

Ein Drittel des Fleisches behält die Familie selbst, ein Drittel geht an den Nachbarn und ein Drittel an die Armen. Letztere sind meist obdachlose „Berber“, sie braten dann die Hammelfüße und -köpfe auf kleinen Feuerchen überall in den Gassen. Der Geruch, der dann die Luft erfüllt, sei nicht zu beschreiben, sagt Tanja Tibaldi, die überwältigende Stille nach dem Schlachten ebenso wenig.

Die Schweizerin und ihr britischer Ehemann Eben C. Lenderking verliebten sich vor wenigen Jahren rettungslos in die ockerrote Lehmstadt, ließen ihre höchst einträglichen Jobs als Investmentbanker sausen und investierten in drei verfallene Riads. Einer davon diente einst als Harem, wie sich herausstellte. Ein während der Restaurierung entdeckter Tunnel führte zum gegenüberliegenden Palast des Großwesirs Ahmed Ben. Honi soit qui mal y pense, ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Marrakesch, die rote Stadt. Zu jedem Bezirk gehört eine Moschee, ein Brunnen, ein Hamam, eine Bäckerei. Schon am frühen Morgen huschen die Frauen durch die schmalen Souk-Gassen und bringen ihre Brote, die sie mit persönlicher Gravur im Teig versehen, zu den Bäckern mit ihren Ferann-Öfen. In den Mauernischen werkeln Zünfte, Silberschmiede hämmern, Färber hängen ihre Wolle zum Abtropfen auf. Vor der ältesten Buchhandlung La Fnaque Berbère, die eigentlich ein Kiosk ist und doch die schönsten Marokkobücher weit und breit vorrätig hält, diskutieren Männer angeregt Neuigkeiten.

Bedingungslos ergebene Esel zuckeln vor hoch beladenen Karren über den Marktplatz Jemaa al Fna, dessen Faszination schon so viele Literaten inspirierte. Kamele, an Palmen angebunden, blöken, grunzen und röcheln – ihnen ist offenbar langweilig. Ob Melancholie, Magengrimmen oder Liebeskummer, in der Berberapotheke neben dem ältesten Stadttor Bab Doukkala hält Apothekerin Khadija für alle Qualen ein Mittel bereit, lüftet bereitwillig den Schleier des Geheimnisses um die Aphrodisiaka in den Regalen. Vom Arganöl, das von einer Frauenkooperative produziert wird, sind ebenfalls wahre Wunder zu vernehmen. Sogar Marokkos Ziegen scheuen keine Mühe, für die Arganfrüchte auf die stacheligen Arganienbäume zu klettern.

Mit der stilsicheren Gestaltung des Riads „Dar les Cigognes“ manifestierten Tanja und Eben in Marrakesch den Trend zum Boutique-Hotel: höchster Luxus in privatem, intimen Ambiente. Verwinkelt sind die Treppen und Zugänge zu den Gemächern und Kemenaten, zum Hamam und sprudelnden Brunnen in den Innenhöfen. Stille und Schönheit umfängt den Gast, zarte und kräftigen Farben der orientalischen Stoffe, Mosaiken und Wandbemalungen wurden von der Dame des Hauses selbst ausgewählt. „Die marmorartigen Innenwände sind aus Tadelakt, einem mineralischer Glanzputz, der im Sommer kühlt und im Winter wärmt“, erklärt Madame Tibaldi. „Das wasserabweisende Naturmaterial ist resistent gegen Schimmelpilze. Es ist eine Mischung aus gebranntem Kalkstein, Sand, Lehm und Asche. Sie ergibt eine unterschiedliche, sehr lebendige Farbtiefe.“ Der samten schimmernde Glanz lädt zum Streicheln ein. „Sie müssen regelmäßig intensiv poliert werden“, sagt Tanja und seufzt. „Mit schwarzer Olivenseife und einem Stein in einem Strumpf rücken wir zwei Mal im Jahr den gesamten Flächen zu Leibe.“

Für den Blick vom blühenden Dachgarten über die Dächer des jüdischen Bezirks Mellah, das benachbarte Storchennest und das schneebedeckte Atlasgebirge eignen sich als Bekundungen des Staunens weder „Wow“ noch „Super“, sondern nur andächtige Faszination. Von der Mühsal und dem Reiz des Riad-Umbaus zeugen Worte und Skizzen des Hausherrn in dessen Kochbuch. Um das alte jüdisch-marokkanische Gericht Skhina (oder auch Dafina) wiederzubeleben, das viele Stunden kochen muss, forschte Tanja in ganz Marrakesch. Sie traf auf eine 90-jährige Frau in der Mellah, die mit ihrer 70-jährigen Tochter Rezept und Zubereitungsweise aus dem Effeff beherrschten und darüber hinaus noch den dazu notwendigen, übergroßen Ofen besaßen.

Im islamischen Marokko leben Sunniten, Juden, Christen, Katholiken friedlich beieinander, die Auswirkungen auf die einheimischen Gerichte, zusammen mit den französischen und spanischen Einflüssen sind nicht anders als paradiesisch zu beschreiben. Im „Dar les Cigognes“ steht man gemeinsam am Herd. Alle Zutaten werden von Koch und Gästen erst frisch auf den Märkten in den Souks erhandelt und dann in Tajine-Töpfen gegart. Besuchsweise darf gegenüber im königlichen Palast über glühender Kohle gebrutzelt werden. Zwei gestandene Männer sind nötig, um den Spieß mit mindestens zwölf Hühnern zu drehen und diese dabei zur Bräunung mit gewürzter Butter einzureiben.

Glücklich zudem, wer einen Platz am „Table d’autres“ der charmanten Gastgeberin erhascht: Sie lädt ein zum Gespräch mit Professoren zu speziellen Feiertagen und Themen. Nach Einbruch der Dämmerung leitet man die Gäste fürsorglich zum Haupthaus und zurück. Die für zukünftige Stromleitungen aufgegrabenen Mellah-Gassen sind nicht nur gefährlich, sie lassen Befürchtungen zu, dass es mit den lauschig-romantischen Laternenführungen bald vorbei sein wird. An kühlen Herbst- und Winterabenden und an Weihnachten wärmt der Kamin in der kleinen Bibliothek. Manch ein Reisender ignoriert zu Weihnachten kühn die Diskrepanz zwischen dem christlichen Fest und dem muslimischen Land, begeht die Feiertage unter dem echten Weihnachtsbaum, der ein jährlich wiederkehrendes Geschenk vom Gemüsehändler an Tanja darstellt. Bestaunt den marokkanischen Baumschmuck, fährt mit der Pferdedroschke zu einer der Kirchen und genießt danach das festlich-europäisch-marokkanische Nachtessen bei orientalischem Tanz und weiteren 1001- Nacht-Überraschungen. Pourquoi pas! Yallah!

Wenige Straßen entfernt eröffnete kürzlich das feudal-dezente La-Mamounia-Palace-Hotel. Während dort vier Bedienstete pro Gast jeden Wunsch unmerklich von deren Augen ablesen und erfüllen, ist vom Gast in dem kleinen Boutique-Hotel eine direkte Kommunikation mit den guten Geistern des Riads erwünscht. Zu erfahren, wie der marokkanische Butler, der Limousinenfahrer oder die marokkanische „Dada“-Köchin leben und denken, gehört sogar zum Konzept. Nur so entwickle man Verständnis füreinander, für Marokko und seine Besonderheiten, betont Tanja Tibaldi.

Es bleibt unklar, ob die bislang schlechten Flugverbindungen von Deutschland nach Marrakesch der Stadt guttun oder nicht. Der entsprechende Ausbau diverser Flugverbindungen jedenfalls ist geplant.

Uta Petersen

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