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Alaska

© dpa

Alaska: Nichts als die Freiheit

Hart und einsam ist das Leben in der Wildnis von Alaska. Es erfordert einen besonderen Menschenschlag, sagt Buschpilot Mick. Er würde nie wegziehen.

Von Hektik keine Spur. Zwei Indianer vom Stamm der Athabasken dösen auf einem verschlissenen Sofa vor sich hin, die Frau am Check-in manikürt sich die Fingernägel. Daneben verstaut Mick Vanhattan in aller Gemütlichkeit die Fracht. Zwei Ananas, ein paar Melonen, Saft, Kleidung, Trockenfleisch und ein Sack Zwiebeln landen in einem Metallkoffer. Dann schließt er den Reißverschluss seiner Pilotenjacke und karrt die Fracht vor den Hangar, der als Lager, Büro und Abflughalle zugleich dient.

Draußen steht ein Propellerflugzeug mit hellblauen Seitenstreifen. „Mein Baby“, stellt Mick vor, während er die Güter verlädt, „30 Jahre alt, mehr als fünf Millionen Flugkilometer auf dem Buckel, aber so zuverlässig wie am ersten Tag.“ Noch kurz die Instrumente kontrolliert und ein Blick auf die Notausrüstung geworfen: extra dicker Schlafsack, Kocher, Pasta in Dosen, Flinte, Signalmunition. Die beiden Passagiere nehmen ihre Sitzplätze ein. Dann kommt der Postbote. „Die Summe aus Fracht, Post und Passagieren rechnet sich“, erläutert Mick, „aber jedes für sich wäre unrentabel.“

Mick Vanhattan ist 65 und Buschpilot. Er fliegt in die entlegenen Gegenden Alaskas, zu indianischen Dörfern, die sonst nur auf dem Wasserweg erreichbar sind, oder zu alten Goldgräbersiedlungen, in denen ein paar Zivilisationsflüchtlinge harren und hoffen. Mick gilt als Meister seines Fachs. Einmal musste er seine Maschine oben im Norden bei totaler Dunkelheit auf einer 60 Meter langen Eisplatte notlanden. Eine Tragfläche war beschädigt. Er hat sie im Licht einer Taschenlampe repariert und seine Passagiere sicher zurückgebracht.

Nur zwei Mal am Tag geht es auf dem Flughafen von Fairbanks geschäftig zu: Im Morgengrauen, wenn die Frachtmaschinen hereinschweben, die auf der Route von Europa nach Ostasien hierZwischenstation machen. Und am Nachmittag landen die Ferienflieger. Im Sommerhalbjahr, wenn die Sonne fast rund um die Uhr scheint, ist der eine Flugstunde entfernte Yukon River ein beliebtes Revier für Kanu-Safaris.

Hinter Fairbanks endet die Zivilisation. Mick deutet auf eine Straße, den Dalton Highway. Er führt hinauf nach Prudhoe Bay, zu den Ölfeldern im Nordpolarmeer. 900 einsame Kilometer, nur die ersten 100 sind asphaltiert. „Das Leben in Alaska ist hart“, sagt er. „Es erfordert einen besonderen Menschenschlag.“ Einen ganzen anderen als in den „Lower 48“, wie sie die 48 Staaten Kontinentalamerikas hier oben nennen. Das beginnt schon mit der geringeren Mobilität: Mick hat noch nie woanders gelebt, er könnte es sich auch nicht vorstellen.

Er ist Halbblut, Sohn einer Athabaskin und eines Texaners, der vor Strafverfolgung in der Heimat nach Alaska floh. Näheres weiß Mick selbst nicht: „Ich habe ihn gelöchert und gelöchert. Aber er hat immer nur vielsagend gelächelt.“

Wie Micks Vater fanden die meisten hierher. Entweder als Glücksritter zu Zeiten des Goldrauschs Anfang des 20. Jahrhunderts oder weil sie etwas angestellt hatten. Alaska war damals ein amerikanisches Territorium, nahezu unbesiedelt, und der Arm des Gesetzes besonders kurz. Erst 1959 wurde aus dem Territorium ein Bundesstaat. Heute leben in Alaska gerade mal so viele Menschen wie in Frankfurt – auf einer Fläche, die fast fünf Mal so groß ist wie Deutschland.

Über dem Yukon River endet der Funkkontakt mit der Bodenkontrolle in Fairbanks. Nun ist Mick auf sich allein gestellt. Wie die Pioniere der Luftfahrt, die in der Mythologie Alaskas eine ähnliche Rolle spielen wie anderswo in den USA die Cowboys. In Männern wie Carl Ben Eielson, der 1924 den ersten Postflug absolvierte und fünf Jahre später vor der sibirischen Küste abstürzte, vereinten sich Abenteuerlust und Altruismus. Sie durchmaßen ein unerforschtes Territorium – in winzigen Machinen mit offenem Cockpit. Sie trotzten dem Klima: Im Winter wird es nur ein paar Stunden hell, das Thermometer sinkt bis auf minus 50 Grad Celsius, Eisnebel mindert die Sicht. Die Erinnerungen der Pioniere haben Mick für die Luftfahrt begeistert, vergleichen mag er sich mit ihnen nicht: „Sie waren Helden, echte Buschpiloten. Heute dagegen haben wir computergestützte Anflüge und komfortable Landebahnen.“

Auf den ersten Blick ist Arctic Village nicht mehr als eine Schotterpiste, an deren Ende zwei Wellblechhütten stehen. Erst auf den zweiten erkennt man hinter den Büschen die schmucklosen Häuser der Einwohner. Die beiden Passagiere steigen wortlos aus. Zwei Indianer knattern auf Quads heran, Mopeds mit vier Rädern. Für sie ist die Fracht bestimmt. Ein dritter nimmt die Post entgegen. Der Job ist beliebt in Dörfern wie Arctic Village, immerhin bringt er etwas Geld.

Mick ist in Arctic Village aufgewachsen. 50 Einwohner hatte das Dorf damals, heute sind es 200. „Hier gab es nichts, außer Arbeit. Holz hacken, Wasser schleppen, Jagen, Fischen. Etwas anderes kannten wir nicht.“ Noch heute ist das Leben in Arctic Village einfach. Die einzigen Duschen befinden sich in der sogenannten Washeteria, der Kontakt mit der Außenwelt läuft über das Funkgerät im Community Center. Gejagt und gefischt aber wird kaum noch. Fast jeder lebt von der Wohlfahrt, wie in den meisten der rund hundert Indianerdörfer in den Weiten Alaskas. „Die Menschen haben ihre traditionelle Lebensweise verloren“, sagt Mick, „und damit ihre Würde.“

Wieder in der Luft meldet sich ein Suchhubschrauber. Zwei Touristen sind von einer Kanufahrt nicht zurückgekommen, zuletzt wurden sie in einem Seitenarm des Yukon gesehen. Mick geht auf 200 Meter herunter und hält nach ihnen Ausschau – nichts. Mick zieht die Maschine hoch, es geht über die Brooke Range, ein karges Gebirge, das den gesamten nördlichen Zipfel Alaskas einnimmt, nach Wiseman, ein ehemaliges Goldgräberdorf. Es liegt in einem schmalen Tal, umgeben von zerklüfteten Bergen. Oft hat Mick die Landung abbrechen müssen, bei Regen oder wenn sich Nebel in den Niederungen festsetzt, ist es zu gefährlich. Heute hat er Glück.

Wiseman ist das pure Idyll. Einige schmucke Holzhäuser gruppieren sich um ein Fichtenwäldchen, durch das ein Bach mit kristallklarem Wasser fließt. Die Schornsteine dampfen, im Herbst ist es hier schon empfindlich kühl. Vor einer dieser Hütten empfängt uns Jack Reacoff, ein schlanker, durchtrainierter Mann mit Flinte über der Schulter. Jack ist Postmeister von Wiseman, hier geboren und aufgewachsen. Als einer der wenigen hielt er durch, als die Minen in den 60er Jahren ausgeschöpft waren und die Goldsucher abzogen. Heute leben wieder 50 Menschen in Wiseman.

Wie die meisten in Wiseman ist Jack Selbstversorger. Im Sommer baut er Gemüse an, im Herbst sammelt er Beeren, aus denen er Saft und Marmelade macht. Und er jagt. Einen Elch und zwei Karibus braucht er, um über den Winter zu kommen. Außer für den Job als Postverteiler kommt nur noch Geld durch den Verkauf von Fellen herein. Vor Jacks Haus hängen zwei Wolfsfelle, jedes ist 400 Dollar wert. „Wiseman ist keine Kommune“, sagt Jack. „Hier ist jeder auf sich gestellt. Du musst alles können, mit der Kettensäge umgehen, die Schneekatze fahren, ein Haus bauen oder einen Wasserschaden reparieren. Es gibt ja weit und breit weder Elektriker noch Klempner.“

Trapper wie Jack sind rar geworden in der Wildnis Alaskas. Zu hart ist das Leben – und zu einsam. Aber für Jack macht gerade das den Reiz aus: „Ich bin mein eigener Herr, 24 Stunden am Tag, und muss keine Kompromisse eingehen.“ Das Handwerk hat er von seinem Vater gelernt, der später nach Südafrika ausgewandert ist. Mutter und Schwester dagegen leben in den Häusern nebenan. Jacks Kinder studieren in Anchorage, seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben.

Mick muss wieder los. Nach Anaktuvuk Pass, ein Indianerdorf hoch oben in der Brooke Range. Morgen geht’s Richtung Westen: Huslia, Shungnak, Kotzebue an der Beringstraße. Aus- und Einladen, ein kurzes Schwätzchen und sofort weiter. Ein Traumjob, findet er: „Wenn ich über dieses weite, kaum berührte und besiedelte Land fliege, fühle ich mich frei. Was für ein Privileg, das jeden Tag genießen zu können.“

Information: Beim Schweizer Anbieter Suntrek (www.suntrek.de) lassen sich unter anderem Reisen auf den Spuren der Goldsucher von San Francisco nach Alaska buchen (ab 1598 CHF). Go North (www.gonorthalaska.com) stellt individuelle Ausflüge und Abenteuertrips zusammen, hat aber auch feste Reisen im Programm.

Tom Noga

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