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Einmal noch nach Bombay – oder nach San Francisco. Sehnsuchtsrouten gibt es für Frachtschiffreisende genügend.

© David Hamilton, p-a

Alternative Reiseformen: „Animation ist lästig“

Warum Frachtschiffreisende allein auf Tour gehen und Kreuzfahrten hassen.

Ein Phänomen des maritimen Tourismus’ galt bislang als unerforscht: das Frachtschiffreisen. Diplom-Geograf Lennart Heise entdeckte das Thema für sich und arbeitete es wissenschaftlich auf. Mit ihm sprach Bernd Ellerbrock.

Herr Heise, wie kommt man dazu, ausgerechnet über Frachtschiffreisen zu forschen?
Ganz einfach: Ich wollte eine wissenschaftliche Lücke schließen. Das Thema war bislang unbearbeitet, bot sich also geradezu an.

Sie nennen das „geografische Tourismusforschung“. Was bitte haben wir uns darunter vorzustellen?
Die geografische Tourismusforschung widmet sich der Analyse räumlicher Strukturen und Prozesse durch den Tourismus, denn zu jeder Urlaubsreise gehören nun mal Orts- und Rollenwechsel. Wir fragen: Wer reist und warum? Wie und wohin wird gereist? Welche Potenziale und Risiken ergeben sich an Ausgangs- und Zielort für Mensch und Umwelt?

Und was wollten Sie nun speziell herausfinden?
Frachtschiffreisen erleben seit einigen Jahren eine Renaissance als außergewöhnliche und kaum beachtete Reiseform auf dem Tourismusmarkt. Ziel der Analyse war es, die Nachfrage zu erklären. Geografische Tourismusforschung ist eben auch Verhaltenswissenschaft. Untersucht wurden insbesondere die Reisemotive der Passagiere und Aufenthaltsmerkmale an Bord. Und zwar mit Hilfe detaillierter Fragebögen.

Was also treibt jemanden auf ein Schiff mit bunten Blechcontainern an Bord?
Wir haben es immer mit einem ganzen Bündel von Motiven zu tun: Manchmal geht es um die Technik an Bord, manchmal um Schiffsromantik oder auch um Naturerlebnisse, Authentizität, bisweilen auch um Erinnerungen, die ehemalige Seeleute für sich aufleben lassen möchten.

Gibt es eine gemeinsame Motivation?
Nun, einige Reisemotive werden in der Tat sehr häufig genannt. Mehr als 80 Prozent bewerten die Aussage „Frachtschiffreisen bieten verschiedene Phasen von Ruhe und Erlebnissen“ als zutreffend. Etwa zwei Drittel möchten „Abstand zum Alltag gewinnen“, „Ausruhen und Faulenzen“ und „keinen gesellschaftlichen Verpflichtungen unterliegen“, aber auch „neue Eindrücke gewinnen“, „herumkommen“ und „andere Länder erleben“.

Wo bleiben da die klassischen Motive Sonne, Spaß, Sport?
Genau die treten deutlich in den Hintergrund. Motive wie beispielsweise „Spaß und Freude“, „Sonne und schönes Wetter“, „sich unterhalten lassen“ sowie „sich verwöhnen lassen“ sind insofern ebenso wie sportliche und gesundheitliche Motive kaum von Bedeutung.

Was macht Frachtschiffreisen dann aus Sicht der Kundschaft besonders attraktiv?
Das Erlebnis auf See unter authentischen Bedingungen. Der Kontakt zur Besatzung, die Weite und Ruhe der See, die Möglichkeit Schiff und Technik zu erkunden, der Wechsel aus Seeerlebnissen und Landgängen, die Abgeschiedenheit und der Abstand zum Alltag.

Balance, Entschleunigung und Selbstfindung

Lennart Heise (29) hat an der Uni Göttingen und an der University Exeter (Großbritannien) studiert, Schwerpunkt Wirtschafts- und Tourismusgeografie.
Lennart Heise (29) hat an der Uni Göttingen und an der University Exeter (Großbritannien) studiert, Schwerpunkt Wirtschafts- und Tourismusgeografie.

© privat

Sie schreiben, Frachtschiffreisen seien „Selbstfindungsphasen“ für vom Alltag überforderte Menschen, die kurzfristige Fluchtversuche unternehmen. Gehen Ihnen da tiefenpsychologisch nicht ein wenig die Pferde durch?
(Lennart Heise lacht) Nee, aber Ihre Frage ist provokant. Ich versuche eine ernsthafte Antwort: Seit mehreren Jahren gibt es eine wachsende Wahrnehmung von Beschleunigungseffekten im Alltag. Insbesondere die rasanten Informationstechnologien erlauben unseren post-industriellen Gesellschaften eine starke Beschleunigung. Das Motto lautet: Höher, schneller, weiter! Die negative Folgen kennen wir: Stress, Fehleranfälligkeit, Krankheiten, sogenannte Burn-outs.

Okay, und dabei geht das Zeitempfinden verloren…
… dem sich die Menschen in zunehmendem Maße entziehen wollen und sich auf die Suche begeben nach Eigenzeit und Downshifting. Frachtschiffreisende streben an Bord nach Balance, Entschleunigung und Selbstfindung. Wir haben es nicht ausschließlich mit Schiffsfreaks, Abenteurern, Nostalgikern oder Weltenbummler zu tun.

Sie haben auch eine Menge an statistischen Daten zusammen getragen.
Ja klar. Und zwar mit dem Ergebnis, dass es „den typischen“ Frachtschiffreisenden nicht gibt. Repräsentiert sind alle Altersklassen, soziale Schichten und Bildungsstände. Dennoch: Die meisten Frachtschiffreisenden sind zwischen 50 und 69 Jahre alt, das Bildungsniveau und das Durchschnittseinkommen sind überdurchschnittlich hoch. Die Mehrzahl der Frachtschiffreisenden kommt im Übrigen aus dem norddeutschen, also küstennahen Raum.

Sie haben doch noch viel mehr herausgefunden…
Der durchschnittliche Reisepreis liegt etwa bei 95 Euro pro Tag und ist damit zirka 35 Prozent teurer als die bundesdurchschnittliche Auslandsreise. Zusätzlich werden rund 17 Euro pro Tag etwa während der Landausflüge und für Getränke an Bord ausgegeben. Abgelegt wird in vier von fünf Fällen in Hamburg, Bremerhaven, Rotterdam, Antwerpen oder Lübeck. Drei Viertel der Frachtschiffreisenden bucht eine Rundreise, also mit identischem Ein- und Ausschiffungshafen.

Gibt es Lieblingsziele oder Fahrgebiete?
Bei den Deutschen beliebt sind insbesondere Fahrten durch die Ostsee, die Transatlantikpassage in die USA und Reisen in die Karibik. Aber auch Reisen um die ganze Welt via Suez- und Panamakanal.

Und extrem viele Lonesome Cowboys…
Erstaunlicherweise reisen zwei Drittel aller Frachtschiffreisenden ohne Begleitung. Hier liegt ein ganz gravierender Unterschied zum Bundesdurchschnitt, denn 89 Prozent der Deutschen verreisen mit Partner, Familie oder Freunden.
Sie haben herausgefunden, dass Frachtschiffreisende, zugespitzt formuliert, Kreuzfahrt-Hasser sind. 90 Prozent wollen keine Kreuzfahrt unternehmen oder haben eine hinter sich mit dem Resultat, dies nie wieder tun zu wollen. Wie ist das zu erklären?
Die Antipathie ruht auf mehreren Säulen: An Bord von Hochseekreuzfahrtschiffen seien zu viele Leute, das Animations- und Entertainmentprogramm sei lästig, die gesellschaftlichen Zwänge omnipräsent und daher belastend, es gebe kaum Freiheiten und Möglichkeiten Zeit für sich selbst zu finden. Einmal an Bord eines Frachtschiffes gewesen, können sich die meisten Passagiere deshalb keine Hochseekreuzfahrt vorstellen.

Als Fazit und Ausblick wägen Sie Potenziale und Risiken ab. Nun, was überwiegt?
Eindeutig die Potenziale. Charakteristisch für die meisten Menschen ist die Suche nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen, die Abenteuer, Spannung, Abwechslung, Faszination und Freude, aber auch Authentizität, Individualität, Sinnorientierung, Ruhe und Zerstreuung vermitteln. Unter diesen Prämissen eilen Frachtschiffreisen als einzigartige und nicht ersetzbare Reiseform enorme Potenziale voraus. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass Frachtschiffreisen zu einem Massenphänomen werden. Frachtschiffe sind keine touristischen Destinationen.

Nach meinen Informationen übersteigt heute schon die Nachfrage das Angebot.
Ja, stimmt genau. Die wichtigste Rolle kommt deshalb den Reisemittlern und Spezialreiseagenturen zu: weitere Reedereien und Vercharterer müssen überzeugt werden, Kammern auf ihren Schiffen für Passagiere anzubieten. Nur so kann das Angebot ausgeweitet und die steigende Nachfrage bedient werden.

Auf Basis Ihrer Arbeit haben Sie sogar ein paar Tipps parat, zum Beispiel für die Anbieter und Agenturen. Welche sind das?
Nur so viel: Die Nachfrage wird individueller, das Interesse an Teilstrecken und Zusatzleistungen wächst, das Marketing muss zielgerichteter werden, um die Bekanntheit von Frachtschiffreisen zu erhöhen. Vor allem aber – und das wiederhole ich – muss das Kontingent von zu suchenden Frachtschiffen erweitert werden.

Lennart Heise: Frachtschiffreisen als alternative Reiseform. Analyse einer touristischen Nische – Eine empirische Untersuchung an Passagieren. Diplomica Verlag, Hamburg 2012, 208 Seiten, 48 Euro; ISBN 978-3-8428-7927-0

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