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Alles im Blick. In einem Tulou bleibt den Nachbarn kaum verborgen, was auf den Etagen und im geschlossenen Hof so geschieht.

© Jörg Kersten

China: Der junge Chang schleicht zu den Wengs

Die riesigen Runddörfer im Südosten Chinas sind Weltkulturerbe. Auch Touristen können hier übernachten.

Als Junge trieb Lin Qinming vor ein paar Jahren noch Enten und Wasserbüffel durch sein Dorf Hongkeng. Nun ist er erwachsen geworden und engagiert sich im Fremdenverkehr. „Seitdem die Welt auf unsere Dörfer aufmerksam geworden ist, kommen immer mehr Touristen hierher“, sagt er zufrieden. Bisher sind es vor allem Chinesen, die am Wochenende aus den Städten anreisen. Ausländer dagegen lassen sich noch selten sehen. Das könnte sich in Zukunft ändern, denn die Architektur der Hakka in Chinas südöstlichen Provinzen Fujian, Guangdong und Jiangxi dürfte einzigartig sein. Und seit die Unesco die seltsamen runden Gebilde auf die Welterbeliste und damit in den Blick einer größeren Öffentlichkeit gesetzt hat, ist das Leben der Hakka dramatisch umgekrempelt worden.

Von oben fotografiert sehen die Dörfer wie vom Himmel gefallene Napfkuchen aus. 20 000 dieser meist runden Lehmbauten, sogenannte Tulou, soll es im Südosten Chinas geben. Angeblich sind die Clandörfer der Hakka bis zu 800 Jahre alt, stammen also aus der Zeit, als es diese Han-Chinesen aus Nordchina in den Südosten verschlagen hat.

Da wir zu der Kategorie der eher selten erscheinenden ausländischen Gäste zählen, schenkt uns Lin Qinmings Familie ihre ganze Aufmerksamkeit. Tochter Mei bittet uns gleich nach Ankunft im Fuyulou-Tulou zur Teezeremonie und lächelt gewinnend, während sie das heimische Getränk in all seinen Sorten, von Schwarz bis Grün, kunstvoll aufgießt und dann offensichtlich nach einer exakten Vorgabe ziehen lässt. Da sitzen wir also auf Bambusstühlchen im Hof eines 200 Jahre alten, gewaltigen Lehmgebäudes, dem weder Erdbeben noch Banditen etwas anhaben konnten, schlürfen Hakka-Tee und staunen: Der Gebäudekomplex erstreckt sich auf 5000 Quadratmetern, halb so groß wie ein ordentliches Fußballfeld.

Ein Schnaps für die Verstorbenen

Das Holz der Stiegen knarzt, als wir hinaufsteigen, um unsere Kammer zu beziehen. Die Tür tut sich schwer, uns einzulassen. Erst unter entschiedenem Druck gibt sie polternd nach. „Ach ja, die Toilette ist außerhalb“, sagt Mutter Lin. Luxus darf niemand in einer Tulou-Herberge erwarten. Das Wohngefühl allerdings ist museal. Über dem Bett grüßen Mao und Tschu En-lai den Gast von einem schon längst abgelaufenem Kalenderblatt. Die Troddeln eines Seidenlampions sind von Motten angenagt. Die wurmstichige Truhe muss aus Kaisers Zeiten stammen, denn die Männer in den aufgemalten Szenen tragen alle einen Zopf.

Die Ahnen der Familie Lin wohnen direkt vor unserem Zimmer. Jeden Morgen wird auf dem hochbeinigen Tisch unter den Schwarz-Weiß-Porträts der Vorfahren Räucherwerk angezündet. Der Duft soll die Geister betören. Zudem soll der gespendete Schnaps die Seelen der Verstorbenen erheitern. „Dem Haus bringt das tägliche Opfer an die Vorfahren Gesundheit und Wohlstand – und stabilisiert den Strom.“ Davon ist Lin Qinming überzeugt. Im Gegensatz zur Elektrik ist auf den Hahn im Hof stets Verlass: Bei Sonnenaufgang begrüßt er mit lautem Krähen den neuen Tag und weckt die Besucher zur Erkundungstour.

Onkel Zhen hat sich auf die Wünsche der Touristen eingestellt. Er kennt die schönsten Tulou im Kreis Yongding. Mit seinem neu angeschafften Toyota-Geländewagen kutschiert er uns durch eine fantastische Kulisse aus Bergen, Reisterrassen, Bambuswäldern und Wasserläufen zu den weit verstreuten Rundbauten, die oft in Gruppen in den Tälern stehen.

Sind wir etwa nicht willkommen?

20 000 Rundbauten der Hakka gibt es in der Region.
20 000 Rundbauten der Hakka gibt es in der Region.

© Jörg Kersten

Die meisten der seltsamen Gebäude wirken schon von außen eindrucksvoll. Der mächtige Chengqi-Wohnring aus dem 17. Jahrhundert zum Beispiel ist 20 Meter hoch. Die drei Meter dicken Mauern des Ungetüms bestehen aus heimischem Lehm. Es gibt nur wenige kleine Fenster unter dem hoch liegenden Schindeldach. Wie bei allen Tulou gibt es beim Chengqi-Gebäude nur ein einziges Tor, das den Zugang in das Innere erlaubt. Gefertigt ist es aus Holzstämmen, die die Hakka von außen mit einer schweren Eisenplatte verstärkten. Die Bauweise der Gehöfte legt nahe, dass die Wohnburgen zum Schutz ihrer Bewohner errichtet wurden.

Ob die Hakka, die ursprünglich aus der zentralasiatischen Baikal-Region im Altai stammen sollen, die Tulou in der unruhigen Songdynastie vorsorglich als eine Art Wehrburg errichteten, ist umstritten. Spekuliert wird auch darüber, ob die geschlossene Bauweise der Hakka als Verteidigungsanlagen gegen Piraten aus dem nahen Chinesischem Meer dienten. Ja, von Trutzburgen gegen Hungerflüchtlinge aus dem unfruchtbareren Tiefland ist die Rede.

So manche Theorie über die Herkunft der architektonischen Besonderheit der Erdbauten verliert sich im Nebel der Geschichte. Klar ist allenfalls, dass die kunstvollen Runddörfer in Fujian und Guangdong vom 12. Jahrhundert an bis in die 1970er Jahre hinein gebaut wurden. 46 der kreisförmigen Lehmbauten wurden von der Unesco zum Kulturerbe erklärt – dabei sind alle sehenswert.

In das Sippenleben der Hakka führt nur das eine Portal

Die Geschlossenheit eines Tulou nach außen weckt die Neugier, denn der Kern der Anlage sieht immer anders aus. Die Ausstattung der Gebäude hängt vom Wohlstand der Kommune ab. So haben sich die Bewohner von Zhengcheng im Zentrum ihres Baus eine Ahnenhalle in Form eines Theaters geleistet, während die Bauern von Shanquing im Kern ihres Wohnkreises lediglich einen Ziehbrunnen haben.

Es ist schon spannend, die gewaltigen Wohnringe der Hakka zu erkunden. Vom Tuloufieber angesteckt, würde der Besucher am liebsten einen Blick in jeden der Gebäudekomplexe werfen. Wie wird es hinter den Mauern des Chengqi-Gebäudes sein? Wird man uns das Eindringen verübeln? Hinein in das Sippenleben der Hakka führt immer nur das eine Portal und das ist, gemessen an den ungeheuren Dimensionen des Bauwerks, unverhältnismäßig klein. Es besteht keine Chance, unentdeckt zu bleiben – schon gar nicht, wenn der Eindringling aus Europa stammt und eine lange Nase hat. Tatsächlich sitzen immer ein paar Bewohner im Schatten des Durchgangs auf Bänken beim Plausch zusammen. Sonnengegerbte Bauerngesichter mustern uns ziemlich ernst und eindringlich. Sind wir etwa nicht willkommen?

Derbe Scherze jedoch überbrücken die Distanz. Offenbar sind wir für die Hakka-Gemeinde eine willkommene Gelegenheit, die Langeweile des Alltags zu vertreiben. Die Jungen indes zeigen den Alten erst einmal, was Bildung ist, indem sie mit uns ihr gelerntes Englisch praktizieren. Dann endlich dürfen wir die Wohnarena betreten – und sind überwältigt von dem Anblick.

Mitten drin im lebenden Museum

Mehr als 800 Menschen lebten früher in einem Runddorf. Heute geht es wesentlich entspannter zu.
Mehr als 800 Menschen lebten früher in einem Runddorf. Heute geht es wesentlich entspannter zu.

© Jörg Kersten

Vier Stockwerke hoch mit 288 Räumen präsentiert sich der stolze Wohnring, der einen Umfang von 229 Metern hat. Kreisrund ist er und misst sicher knapp 80 Meter im Durchmesser. In der Mitte des Hofes gibt es zwei weitere runde Komplexe mit 112 Zimmern und sogar einem Tempel im Zentrum.

Vier Stiegen, geometrisch genau verteilt, führen nach oben in die Wohnbereiche. Dort kann man auf Galerien den ganzen Gebäudekomplex umlaufen. Ob wir mal hinaufsteigen möchten, in den obersten Stock, fragt uns Mi, die in Xiamen studiert und auf „Heimaturlaub“ im Dorf ist. Sie erklärt, dass die Zimmer der Familien nicht nebeneinander, sondern übereinander liegen. Um von einem Raum zum anderen zu gelangen, muss ein Hakka über die öffentliche Treppe gehen. Jeder im Haus kann sehen, wer sich wann wohin bewegt. „Ach schaut mal, Frau Wu legt sich am hellen Tag ins Bett.“

„Ob Herr Wang krank ist, den hat man noch gar nicht gesehen.“ „Der junge Chang schleicht sich schon wieder hinüber zu den Wengs. Da bahnt sich wohl was mit der Tochter an.“ Mi lacht über unsere Scherze. Tatsächlich, so sagt sie, genieße sie die neu gewonnene Freiheit und den Luxus und die gewisse Anonymität der Großstadt Xiamen. Und dennoch: Die Studentin besucht die Eltern im Runddorf nicht nur, weil es das neue Gesetz zum „Schutz der Eltern“ in China gibt, das die Vernachlässigung der Alten unter Strafe stellt. Sie kommt gern, weil ihr manchmal die Anonymität der Stadt auch auf der Seele liegt. „Welchen Wert hat schon meine Ikea-Einbauküche, wenn keiner mit mir spricht?“

Manche Wohnanlagen drohen zu verwaisen

Mi zeigt uns die 42 Koch- und Backstuben des Clans, die im Rund der Anlage unten im Parterre nebeneinander liegen. Wir wandern von Küche zu Küche und schauen – in ein lebendes Museum. Jeder Raum ist originell, das Stillleben einer vergangenen Zeit. Ackergerät und Rattankörbe, wuchtige Lehmöfen mit angeschwärzten Eisentöpfen, Bambushocker auf verstreutem Mehl, ein Kätzchen döst auf dem Kartoffelsack. Fernseher sehen wir nur selten. „Die Küchen sind das Wohnzimmer der Hakka. Ich habe diesen Ort als Kind geliebt. Hier war es immer warm, hierher kam jeder, der ein Anliegen hatte. Überhaupt ging es in unserem Dorf zu wie in einem Bienenstock. Stellen Sie sich vor, mehr als 800 Menschen lebten in der Wohngemeinschaft. Aber das ist lange her“, sagt die junge Frau fast verträumt.

Spielende Kinder trifft man in den mächtigen Wohnanlagen immer seltener. Viele junge Hakka wandern ab.
Spielende Kinder trifft man in den mächtigen Wohnanlagen immer seltener. Viele junge Hakka wandern ab.

© Shiho Fukada/NYT/laif

Inzwischen stehen viele Zimmer leer. Die Armut auf dem Land drückt, und die jungen Hakka wandern ab in die Stadt. So mancher der mächtigen Wohnanlagen droht gar zu verwaisen. Es sind ältere Menschen, die noch die Ahnenecken schmücken und an museumsreifen Ackergeräten kurbeln, um die Spreu vom Reiskorn zu trennen. Ein inzwischen immer wiederkehrendes Motiv der Theatertruppe von Hongkeng ist der Abschied der Jugend aus dem Dorf und die Mühe der Alten auf den Feldern.

Mi hat nicht vor, aus der Zweieinhalbmillionenstadt Xiamen in ihren runden Bau zurückzuziehen. Der junge Lin Quinming aus dem Tulou Fuluyou indes sieht im wachsenden Fremdenverkehr eine neue Chance. Er ist davon überzeugt, dass mit dem Tourismus auch viele seiner Freunde aus den Großstädten zurückkommen werden. Schon schmiedet der junge Mann Pläne, irgendwann einmal einen der leer stehenden stattlichen Bauten zum Hotel umzubauen. Es ist eine Investition, die sich lohnen dürfte, denn während unserer Unterhaltung klingelt stets eines seiner drei Handys. Chinesische Touristen reservieren ihren Aufenthalt. Seit die Tulou zum Weltkulturerbe erklärt wurden, ist der Ansturm auf die Wohnburgen enorm.

Die Kammern mit den knarrenden Türen sind besonders am Wochenende gut belegt. Es ist nun mal ein außergewöhnliches Erlebnis, die Nacht in einem der Tulou zu verbringen, auch wenn oder gerade weil die Toilette außerhalb liegt und der Hahn im Hof einem neuen Tag entgegenkräht.

Jörg Kersten

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