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Russische Kunstsammlung: Wo Monet Matisse trifft

Russische Kunstsammlungen sind legendär. Nun geben sie ein Gastspiel in Amsterdam.

Die Anweisungen der Reiseleiterin sind klipp und klar. „Wenn wir jetzt den Bus verlassen, um den ehemaligen Stadtpalast von Sergej Schtschukin anzuschauen, dann ist das Fotografieren strengstens verboten“, sagt sie. Auffälliges Agieren solle bitte schön auch unterbleiben. In dem eher zierlichen Moskauer Palais, das hinter Gebirgen von vereistem Schnee noch entrückter erscheint, befindet sich nämlich heute eine Abteilung des Militärs. Einer der wichtigsten Orte für die Entwicklung der russischen Kunst, einst Hort für eine der weltweit bedeutendsten Impressionisten- Sammlungen, dient heute als Dependance der Armee. Eine bizarre Situation.

Doch sie hat sich schon verbessert. Als sich Albert Kostenevich, Kurator der Petersburger Eremitage, 1987 hier auf der Straße neugierig umsah, kontrollierte ihn sogleich eine Patrouille. Dass hier einst Gemälde von Matisse, Picasso, van Gogh, Gauguin die Wände füllten und seit 1909 Kunstfreunde an Publikumstagen frei ein- und ausgingen, war den Soldaten ganz neu. Der Kunsthistoriker bekam schließlich unbehelligt seine Papiere zurück. Heute begleitet er mit einer Chappka auf dem Kopf, der typischen Fellmütze, die Reisegruppe zur historischen Stätte.

Auch an der nächsten Station, ebenfalls einem klassizistischen Stadtpalais, in dem einst Werke der westlichen Avantgarde hingen, kommt die Gruppe nicht sehr viel weiter, gerade einmal bis zum Entree. In dem heutigen Bankgebäude gelten die gleichen Sicherheitsbestimmungen wie beim Militär. Im Vestibül, das dem damaligen Geschmack entsprechend mit ägyptisierendem Dekor ausgemalt ist, beginnt und endet auch schon die Führung. Wie passend: Der zu durchschreitende moderne Waffendetektor ist ebenfalls mit Palmwedeln verziert. Doch Kurator Albert Kostenevich bleibt ernst, nicht einmal ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht angesichts dieser Groteske.

Für ihn ist trotzdem dadurch viel gewonnen, dass zumindest wieder über die einstigen Bewohner der Palais, die beiden unermesslich wohlhabenden Textilfabrikanten und Sammler Iwan Morosow (1871– 1921) und Sergej Schtschukin (1854– 1936), offiziell gesprochen werden kann. Nachdem unter Stalin ihre Werke der Impressionisten, Fauvisten, Kubisten als bürgerlich dekadent und konterrevolutionär galten und weggeschlossen wurden, waren deren Besitzer erst recht tabu. Im Westen sind Schtschukin und Morosow längst legendäre Figuren, diese beiden Malerei-Aficionados, die um 1900 ein Vermögen in die Avantgarde investierten und damit auch die russische Kunst vorantrieben, Malewitsch, Gontscharowa, Larionow zu neuen Wagnissen animierten. Im Lande selbst werden deren Verdienste von offizieller Seite nur zögerlich anerkannt.

Zwar wurden seit den sechziger Jahren ihre Picassos, van Goghs, Matisses, die nach 1948 zwischen der Eremitage in St. Petersburg und dem Puschkin-Museum in Moskau aufgeteilt wurden, gern ins Ausland auf Reisen geschickt, um via Leihgebühr Devisen zu bekommen. Doch erst seit den Neunzigern werden die legendären Bilder auch wieder in Verbindung mit den Namen der einstigen Besitzer gebracht. Die Einrichtung einer eigenen Filiale vor drei Jahren unmittelbar neben dem Puschkin-Museum als Haus für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, wozu als eigentliche Glanzstücke die Bilder von Matisse, Picasso, Gauguin aus dem Besitz von Schtschukin und Morosow gehören, demonstriert nun auch im Lande selbst das Umdenken.

Der für die Moderne zuständige Kurator des Puschkin-Museums, Alexey Petukhow, zeigt sich hin- und hergerissen. Stolz führt er Monets „Frühstück im Freien“ vor, dazu Degas, Manet, Cézanne. Wie durch ein Wunder haben sich trotz Revolution, Enteignung der beiden Sammler, Aufteilung ihrer Werke zwischen Petersburg und Moskau, die Kollektionen fast vollständig bewahrt. Nur weniges wurde ins Ausland verkauft. Andererseits weiß der junge Kunsthistoriker um die klaffende Lücke, die jeder Besucher beim Gang durch die Säle mitdenkt: Müssten nicht die Sammlungen wieder zusammengeführt werden? Wie mögen sie in den noch vorhandenen Stadtpalais der einstigen Besitzer heute wohl wirken? „Wir versuchen die damalige Atmosphäre im Hause von Morosow zu rekonstruieren“, windet sich der Kurator und erklärt im Aufgang der Puschkin-Dependance, wo sich die von Morosow bei Bonard in Auftrag gegebenen Wandgemälde und die bei Maillol erworbenen Skulpturen einst befanden.

Im ehemaligen Morosow-Palais residiert heute die Russische Akademie der Künste. Dmitry Shwydkowsky, stellvertretender Direktor, führt in den großen Saal, in dem Morosow vor 100 Jahren seinen musikalischen Salon eröffnete und damals an den Wänden noch eigens geschaffene Werke von Maurice Denis hingen. Heute befinden sich in den frei gewordenen Nischen Malereien von Albina Agritas, einem Mitglied der Akademie der Künste, die wenig überzeugen.

Schicht um Schicht legt sich hier Historie übereinander. In diesem Saal wurde unter Stalin der Beschluss gefasst, die sozialistische Kunst einzuführen und alles, was unter Formalismusverdacht stand, zu verdammen. Dass ausgerechnet in diesen Räumen das folgenschwere Dekret verabschiedet wurde, mag damit zusammenhängen, dass hier 1923, also noch vor dem MoMA in New York, das erste Museum für moderne westliche Kunst gegründet wurde. Und nichts hassten die Politkommissäre mehr als westliche Dekadenz. Nach Enteignung von Schtschukin und Morosow waren ihre Bestände im Morosow-Palais zusammengezogen worden. Die Schließung folgte ein Vierteljahrhundert später.

Zu dem Zeitpunkt war die Erinnerung an deren einstige Gründer beinahe getilgt: Morosow war es nach der Enteignung in der Oktoberrevolution gerade noch erlaubt, sich als Hilfskraft des Archivars in seiner eigenen Galerie zu verdingen. Schtschukin durfte in seinem zum Museum umgewandelten Palast ein Dienerzimmerchen bewohnen, 1918 konnte er fliehen. Morosow starb 1936 verarmt in Paris, Schtschukin 1921 in Karlsbad. Im Moskau der Gegenwart würde man vor allem das letzte Kapitel am liebsten revidieren. Irina Antonowa, seit 1961 mächtige Direktorin des Moskauer Puschkin-Museums, träumt davon, die beiden Sammlungen wieder zu fusionieren, natürlich nicht in St. Petersburg, sondern dort, wo die Geschichte ihren Ausgang nahm: in Moskau.

Mag sein, dass diese Pläne das versteinerte Gesicht des Eremitage-Kurators Albert Kostenvich im Gespräch mit der bald 88-jährigen Museumschefin erklären. Um nichts würde sein Museum die Picassos, van Goghs, Gauguins hergeben. Einzige Ausnahme: Gastspiele wie jetzt wieder eines stattfindet, diesmal in Amsterdam, wo die Eremitage im Amstelhof eine Dependance unterhält. Die Ausstellung prunkt zwar mit den Bildern „Von Matisse bis Malewitsch“, so der Titel, doch den Sammlern Schtschukin und Morosow ist zumindest ein eigener Raum gewidmet.

Tipps für Moskau:

ANREISE

Zwischen Berlin und Moskau herrscht viel Verkehr, also entsprechende Konkurrenz verschiedener Airlines. Lufthansa, Air Berlin, Germanwings und Aeroflot fliegen täglich ab Tegel beziehungsweise Schönefeld zu einem von drei Moskauer Flughäfen. Wir fanden Preise ab 140 Euro. Für die Einreise wird ein Visum (35 Euro) fällig, das man rechtzeitig beantragen sollte.

UNTERKUNFT

Moskau ist ein teures Pflaster. Verlockend erscheint daher ein Paket, das bei dem Air-Berlin-Partner Binoli buchbar ist: Flug und zwei Nächte mit Frühstück in einem Drei-Sterne-Hotel kosten ab 196 Euro pro Person im Doppelzimmer.

AUSSTELLUNG

Die Ausstellung „Von Matisse bis Malewitsch“ hat gestern in der Hermitage Amsterdam eröffnet und läuft bis zum 17. September. Telefonnummer: 00 31 / 20 / 530 74 88, im Internet: www.hermitage.nl

AUSKUNFT

Russland unterhält kein Tourismusbüro in Deutschland.

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