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Die Schöne an der Newa. Bei Nacht wirkt St. Petersburg mit seiner barocken Kulisse besonders anziehend.

© Alexander Demianchuk / Reuters

St. Petersburg: Träumen von der Puschkinstraße

St. Petersburg ist schick geworden – und für viele zu teuer. Zu Besuch bei einer russischen Familie.

Als Alla Skobeleva die Wohnungstür öffnet, schlägt uns ein verführerischer Duft entgegen. Es riecht nach frisch gebackenen Blinis, die russische Antwort auf deutsche Pfannkuchen und amerikanische Pancakes. Fast schüchtern bittet uns die 54-jährige Frau in ihre kleine Neubauwohnung im Stadtteil Kuptschino. Wir, das sind einige deutsche Reisende, die sich ein realistisches Bild vom russischen Alltag in einer St. Petersburger Trabantensiedlung machen wollen, jenseits der barocken Prunkbauten im historischen Zentrum.

Alla kann ein paar Brocken Deutsch und führt uns durch ihre kleine Drei-Zimmer-Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter Galina lebt. Huscht zwischendurch immer wieder in die Küche zu ihren, sprich unseren, Blinis. Auf keinen Fall dürften diese anbrennen, bei so seltenem Besuch aus dem Westen. Nichts passt mehr auf den ausgezogenen Wohnzimmertisch in der guten Stube. Frisches Brot, herzhafte Wurst, knackiger Salat, eingelegter Weißkohl, fette saure Sahne, schwarzer Tee und Wodka natürlich – zur Feier des Tages.

Dann tischt Alla die Blinis auf und erzählt. Dass sie an der Medizinischen Fachhochschule studiert habe und Notfallhelferin sei, was von der Qualifikation zwischen Krankenschwester und Arzt anzusiedeln sei. Dass sie Schichten schiebe im Krankenwagen, die Unfallopfer und die akut Erkrankten dort notversorge und dass man im Russland von heute davon nicht mehr leben könne. Dass sie einen zweiten Job habe, wie fast alle Russen, um irgendwie menschenwürdig leben zu können. Und dass sie hin und wieder deutsche Touristen bekocht, damit sie ihr Deutsch nicht ganz vergesse und die Haushaltskasse ein wenig aufbessere.

Das Venedig des Nordens setzt Maßstäbe

Uns beschleicht das etwas zwiespältige Gefühl, in eine doch sehr private Welt eingedrungen zu sein. Wie offen unsere Gastgeberin über Persönliches redet. Ein Hauch von Melancholie liegt zuweilen in ihrer Stimme, ich meine, das Schwingen der viel beschriebenen russischen Seele spüren zu können. Dann verrät uns Alla mit einem Strahlen in den Augen ihre Lieblingsplätze im Venedig des Nordens, wie die Stadt an der Newa zu Recht genannt wird. Flüsse und Kanäle durchziehen die Altstadt, die 1990 zum Unesco-Weltkulturerbe erhoben wurde.

Alla Skobeleva bekocht deutsche Touristen in ihrer Wohnung.
Alla Skobeleva bekocht deutsche Touristen in ihrer Wohnung.

© Marc Vorsatz

Die altehrwürdige Puschkinstraße ist Alla besonders ans Herz gewachsen. Aber da fühle sie sich seit der Wende eher als geduldeter Zaungast, sagt sie leise. Kein Wunder. In der City übersteigt die Monatsmiete eines sanierten Apartments das Jahresgehalt von Alla. Auch in Sachen Mode setzt die Fünf-Millionen-Metropole Maßstäbe. Neben den großen internationalen Namen der Haute Couture haben sich auch russische Designer etabliert und prägen mit ihren edlen Boutiquen das Bild der Stadt. Die Preise sind beachtlich.

Kunden zahlen Tausende Euro für Kleidung

Stolze 4000 Euro verlangt Modeschöpfer Ianis Chamalidy für ein schickes Jäckchen in seiner Flagman Boutique. Und bekommt sie. Als blutjunger einheimischer Nachwuchsdesigner hat der studierte Kunstmaler mit Einführung der Marktwirtschaft die Gunst der Stunde ergriffen und sich durchgebissen. „Ich besaß keinen einzigen Rubel, aber jede Menge Ideen“, erinnert sich der eher introvertierte Ianis. „Und den eisernen Willen, es zu schaffen im neuen Russland, mir in der Welt der Mode einen Namen zu machen.“ Es gelang.

Chamalidy wurde mehrfach zum Designer des Jahres gekürt, hat das russische Team für die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City ausgestattet, ebenso zahlreiche opulente Operninszenierungen. Chamalidy-Kollektionen sind bereits auf Fashionshows von Mailand bis Tokio gelaufen, er besitzt eine elegante Boutique am Bolschoi Prospekt. Dort präsentiert er Kleider, Röcke und Jacken für die moderne Russin. „Die stammt aus der neureichen Oberschicht – respektive kennt dort zumindest jemanden sehr gut – und ist auffallend attraktiv. Oder hat es selbst zu Geld gebracht, was aber eher selten der Fall ist“, konstatiert der Designer.

In Russland herrscht das Patriarchat, der Mann hat nach wie vor das Sagen.

Neben den Neureichen prägen die Kreativen die Stadt

Alexander Kosenkov. Der Maler kam aus Sibirien nach St. Petersburg.
Alexander Kosenkov. Der Maler kam aus Sibirien nach St. Petersburg.

© Marc Vorsatz

Anders ist das in der Kunst- und Kulturlandschaft. Neben St. Petersburgs weltberühmten Galerien und Museen, allen voran die Ermitage, etabliert sich gerade eine äußerst kreative Szene. Aus allen Ecken des Riesenreiches zieht es Künstlerinnen und Künstler in die Fünf-Millionen-Stadt. Und dies fast unbemerkt vom restlichen Kontinent. Zwar orientieren sich die Russen an Westeuropa, doch schaut umgekehrt der Westen selten gen Osten.

Die wenigsten Kreativen genießen allerdings auch nur annähernd den kommerziellen Erfolg eines Ianis Chamalidy. Der künstlerisch durchaus beachtete Maler Alexander Kosenkov ist einer von ihnen. Aus dem fernen Sibirien, aus Nowosibirsk, hat es ihn zum „Tor nach Europa“ gezogen. Dort verkaufte der Expressionist erst mal einen ganzen Schwung Bilder aus seinem Fundus an einen geschäftstüchtigen Kunsthändler. Für ’n Appel und ’n Ei, um seine vielen Rechnungen begleichen zu können.

Wenig später musste Kosenkov feststellen, dass eben dieser Galerist das Zehnfache des Preises für seine Werke verlangte. „Ich bin Maler und kein Geschäftsmann“, resümiert der sympathische Mann im braunen Pullover. „Diesen verrückten Kunstmarkt habe ich nie verstanden. Das ist eine fremde Welt für mich“, fügt er hinzu. Die Anerkennung als Ausnahmekünstler ist ihm jedoch gewiss. Sogar die renommierte Erarta präsentiert seine politisch geprägten Ölgemälde und Collagen.

Auch Künstler hoffen auf persönlichen Wohlstand

Dieses größte private Museum für zeitgenössische Kunst in Russland hat im Jahre 2010 seine Pforten geöffnet. Neben dem Museum mit seinen über 2000 Exponaten von mehr als 150 russischen Künstlern betreibt die Erarta-Gründerin, Kuratorin und Geschäftsfrau Marina Varvarina, deren märchenhafter Reichtum im Verborgenen liegt, auch Erarta-Galerien in St. Petersburg, New York, London, Zürich und Hongkong.

Mit über 300 Museums-Events jährlich und einer starken Präsenz bei Facebook und Co. will die Kunstsammlerin Varvarina insbesondere die Nachwendegeneration ansprechen. Ihnen Augen und Herzen öffnen für die reiche russische Kunst nach 1945. Die Idee funktioniert, das Haus ist gut besucht, vor allem junge Menschen kommen. Selbst Brautpaare wählen dieses Mekka der modernen Sinnlichkeit als stilvolle Kulisse für Erinnerungsfotos an ihren großen Tag. Alexander Kosenkov freut es jedenfalls, hofft er doch auf ein bisschen mehr persönlichen Wohlstand für seine Zukunft.

Den Traum hat Alla Skobeleva längst ausgeträumt. Im nächsten Jahr, mit 55, wird sie in Rente gehen und nur noch im Nebenjob arbeiten. Dann will sie die teure Neubauwohnung aufgeben und in ihre kleine Datscha aufs Land ziehen. Ganz in die Nähe von Zarskoje Selo, dem Zarendorf, wo einst Katharina die Große rauschende Feste feierte.

Marc Vorsatz

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