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Reise: Aus dem Leimtöpfchen geplaudert

Die Herzog-August-Bibliothek von Wolfenbüttel sammelt und restauriert wertvollste Schriften

Grad jammervoll richtet die steinerne Statue vor dem Portal des Wolfenbütteler Schlosses ihre Augen in den Himmel, als bitte sie um Erlösung von allem Übel, besonders vom Bücherlesen. Die linke Hand umgreift den Einband einer ziemlichen Schwarte, die ihr rechtes Knie stützt. „Sch... Buch“, scheint ihr Blick zu sagen. Demonstrativ, wie’s scheint, hat die Skulptur dem Wolfenbütteler Zeughaus den Rücken zugekehrt. Ausgerechnet.

Denn der kolossale Bau ist heute so etwas wie eine Pilgerstätte aller Forscher, die sich mit dem Buchwesen des Mittelalters und der frühen Neuzeit beschäftigen. Rund 100 000 Bände umfasst allein die Forschungsbibliothek mit Büchern, die von Büchern handeln. Im Erdgeschoss ducken sich die Leser unter dem beeindruckenden Gewölbe, das im Mittelalter die dicksten Kanonen weit und breit hütete und heute zum Schmökern verführt.

Wie wär’s mit einem Standardwerk über Räuber- und Ritterromane? Wenn Julius, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel zwischen 1568 bis 1589, nicht gar so närrisch hinter Ritterromanen her gewesen wäre, hätte Wolfenbüttel vielleicht eine ganz andere historische Gestalt angenommen. Julius’ Ritterromansammlung bildete nämlich die Basis für eine der beeindruckendsten Bibliotheken der Welt, begründet von Herzog August dem Jüngeren (1579–1666), nach dem die Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek (HAB) benannt ist.

August hinterließ der Nachwelt 35 000 Bände – ein Bestand, der heute auf rund eine Million Medieneinheiten angewachsen ist, inklusive Handschriften, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Ihr berühmtestes Werk – das Evangeliar Heinrichs des Löwen – wird nur alle zwei Jahre für ein paar Wochen ausgestellt, um dann wieder im dicken Bibliothekstresor wohltemperiert aufbewahrt zu werden.

Wer sich vom Wolfsburger Schloss die 200 Meter zum Hauptgebäude der He rzog-August-Bibliothek aufmacht, passiert eine kantige Skulptur Nathans des Weisen. Gotthold Ephraim Lessing, der im Brotberuf von 1770 bis zu seinem Tod 1781 Bibliothekar in Wolfenbüttel war, hat das Drama hier vollendet, ebenso wie „Emilia Galotti“. Linkerhand wird im Lessinghaus an das Wirken des Dramatikers und Aufklärers erinnert, geradeaus bildet das Bibliotheksgebäude die Dominante eines Ensembles aus mittelalterlichen Gebäuden, die der Buchaufbewahrung, -erhaltung und -erforschung dienen.

Wie zu tausenden armhoher Parallelpfeilern angeordnet, die sich in die Regaldecken recken, reihen sich die Buchrücken über drei Etagen an den Wänden der Augusteerhalle der Bibliothek. Indirektes Licht aus Regalträgern unterstreicht die magische Wirkung der Bücherreihen. Fast alle Buchrücken sind cremefarben, zwischen vergilbtem Weiß und blassem Beige. Manche Rücken wurden offenbar als weitschweifige Inhaltsverzeichnisse genutzt und beschrieben, zum Beispiel die Werke des Ovid, die unter „149 Poetica“ seit 1619 katalogisiert sind.

Für gehoben farbige Buchdeckelkunst, heißt es, hätten die Fürsten und Herzöge bewusst wenig ausgegeben. Umso heftiger haben sie in kostbar gemaltes Interieur von Handschriften und Drucken investiert, das in Missalen, Evangeliaren, Psalterbüchern versammelt ist und an denen immerzu nagt, was wir den Zahn der Zeit nennen.

Dass es sich bei diesem sprichwörtlichen Ungetüm meist um Schimmelpilze, Holzwürmer oder Mäusefamilien handelt, das weiß aus tagtäglicher Erfahrung der Restaurator Heinrich Grau. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen Doris Kammer und Uta Krause plaudert er hin und wieder fürs Publikum aus dem Leimtöpfchen.

Sacht streicht Kammer mit den Fingerkuppen über eine Stadtansicht Heidelbergs. Der Kupfertiefdruck aus der Sammlung „Deutsche Drucke“ ist im Falz auseinandergefallen und muss mit Vorsicht und Respekt vor mittelalterlichen Gewohnheiten wieder zusammengebracht werden.

Buchbindemeisterin Krause rührt derweil den 80 Grad warmen Kleister aus Hasenknochen an, weist auf den Tisch vor sich, der mit Ziegen-, Rinds- und Schweinslederlaken bedeckt ist und berichtet dazu über lederne Buchrücken, die Wasserschäden genommen, sich vom Trägerbuch gelöst haben und wieder lesefertig herzurichten sind. Ihre zweite Spezialität sind Restaurierungen und Nachbauten von Behältern, in denen wertvolle Werke aufbewahrt wurden, wenn ihre Besitzer auf Reisen waren.

„Herrn D. Marks Psalmen und Kirchenlieder“ sind zur Beute von Kirchenmäusen geworden, und in dem zerlesenen Gebetbuch sind mittlerweile mehr Löcher als gemalte Initialen zu entdecken. Anschaulich erzählt Heinrich Grau von der Restaurationsgeschichte dieser fast zerstörten Bücher, zeigt Buchminiaturen, die ein bisschen größer sind als sein Daumennagel und einen mittelalterlichen Wandkalender, der zwischenzeitlich auf eine zweifelhafte Holzplatte geklebt wurde. Was tun?

Grau verschweigt nicht, dass es bisweilen zu Konflikten kommt. Zwischen Bibliothekaren, denen es um das Wissen geht, das zu heben ist und Kunsthistorikern sowie Restauratoren, denen es eher um den Erhalt der Schönheit geht, die zwischen den Buchdeckeln ruht.

„Wir haben auch Bücher“, hat ein örtlicher Buchhändler in seinem Schaufenster plakatiert. Ausgestellt ist allerdings nur allerlei Krimskrams. Ein Schneemann etwa oder zu Buchstützen gewordene Loriotfiguren. Die Geschäfte gehen in Wolfenbüttels Zentrum wohl nicht besser und nicht schlechter als in anderen deutschen Mittelstädten – eben erst hat sich wieder ein großer Lebensmittelfilialist aus der Fußgängerzone zurückgezogen, wo das eine oder andere Schaufenster vernagelt ist.

Den wohl schönsten Leerstand hat in der Langen Herzogstraße eine Fachwerk-Ziegel-Kombination zu bieten, an der die Inschrift „Herzogliche Factorei 1828“ prunkt – und in dessen Schaufenster für ein Ereignis geworben wird, das im vergangenen Oktober stattgefunden hat.

Von hier sind es nur wenige Schritte zum Stadtmarkt, in dessen Mitte sich Fürst August der Jüngere an sein Pferd lehnt, als hieße er August der Fertige. Mittwochs umringt ihn das Marktgeschehen; dann reihen sich die Stände vor der Kulisse, die Wolfenbüttel in den Rang einer „Fachwerkstadt“ erhoben hat. In Wolfenbüttel, zumal am Stadtmarkt, sind die fachgewerkten Hausfronten hübsch bunt verputzt, mal marineblau, mal rostrot, selten in düsterem Braun oder Schwarz. Spaziergänger und Einkaufsbummler können hier wunderbar studieren, warum sich viele von uns von Fachwerk so angezogen fühlen.

Erstens weil das Holz so schön „arbeitet“ – sanft wellig haben die Jahrhunderte die hellblau gestrichenen Balken gebogen, die das Haus am Stadtmarkt No. 8 tragen.

Zweitens weil jedes Fachwerkhaus ein Unikat ist, das noch im Verfall tausendmal weniger schäbig wirkt als der Waschbetonhorror, mit dem in den 60er und 70er Jahren die deutschen Innenstädte behelligt wurden, da und dort auch Wolfenbüttel.

Und drittens weil Fachwerkbalken lesenswert sind, weil sie stets wie überdimensionierte Poesiealben benutzt wurden, übersät mit meist selbstgefälligen Warnungen und Ermahnungen. „Wer Gott vertraut, hat gut gebaut.“ „Erhebe Dich nicht in Deinem Gelucke. Verzage nicht im Ungelucke.“ Und so weiter.

Allzuviel von solch protestantischer Magerkost ging einer anonymen Besucherin offensichtlich mächtig gegen den Strich. Als Fürbitte trug sie in die Sammlung der Trinitatiskirche zwischen lauter Gottgefälligem und Bescheidenem ein: „Hallo lieber Gott! Sei nicht so Dof und schick mal’n Lottogewinn rüber!“

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