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Reise: Billett zum roten Ahornblatt

Die Weite rechts und links der Schienen: Ein Tour im legendären „Canadian“ von Toronto bis Vancouver.

G rün. Grün. Gelb. Grün. Gelb. Aber kein Rot. So geht es seit dem Aufstehen. Douglasien, Fichten, Lärchen. Hin und wieder mischt sich ockerfarbenes Birkenlaub zwischen das Immergrün der Nadelbäume. Es ist Herbst in Kanada. Die Werbung verspricht rote Ahornblätter. Aber die Farben der am Zugfenster vorbeifliegenden Bäume wechseln immer nur von Grün auf Gelb. Das gehe heute den ganzen Tag so, hatte Zugbegleiterin Bernadette nach dem ersten kurzen Halt morgens um sechs in Capreol erwähnt. Nun ist es Mittag. Die Szenerie ist immer noch die gleiche. Und so bleibt sie bis zum Abend und noch die ganze Nacht hindurch. Dabei ist das rote Ahornblatt doch zum Symbol Kanadas geworden, und dann soll es hauptsächlich nur an der Ostküste und in Souvenirshops zu finden sein? 300 Passagiere in den Waggons werden nervös.

Vor 14 Stunden haben wir in Toronto das Flaggschiff der kanadischen Bahngesellschaft Via Rail, den „Canadian“, bestiegen, um in vier Nächten und drei Tagen das zweitgrößte Land der Welt (nach Russland) zu durchfahren. Einmal von Ost nach West durch fünf Provinzen. Von Toronto am Ontariosee nach Vancouver am Pazifik. Kein Plüsch, kein Schnörkel, keine Spielereien. Der „Canadian“ ist funktional. Ein Lindwurm aus 23 chromblitzenden Waggons aus den 1950er Jahren. Doch der zweifelhafte Charme und Geist dieser Zeit sind durch mehrere Renovierungen längst nicht mehr zu spüren. Gezogen werden die Wagen von zwei blau-gelben Diesellokomotiven. Jede von ihnen mit 3000 Pferdestärken ausgestattet. Dreimal pro Woche startet der Zug um 22 Uhr in Toronto.

Eng ist es in den Schlafwagenabteilen der ersten Klasse. Zweierkabinen sind mit Doppelstockbett, Waschbecken und separatem Toilettenraum ausgestattet. Alleinreisende führt Bernadette in eine Art Wohnklo mit Sessel, Toilette und Waschgelegenheit. Zur Nacht wird hierüber ein recht komfortables Bett geklappt. Die preiswerteste Variante sind breite Schlafkojen hinter dicken grauen Vorhängen. Jeder Waggon verfügt über eine geräumige Dusche. Bei mehr als 80 Stunden reiner Fahrzeit nicht zu unterschätzen. In der ersten Klasse reisen wir nur mit Handgepäck. Für mehr ist kein Platz. Große Koffer sind im Gepäckwagen hinter den beiden Loks verstaut.

Mit dem Flugzeug könnte man die Strecke bis zum Pazifik in knapp sechs Stunden zurücklegen. Doch die meisten Passagiere im „Canadian“ sind bereits in ihrer zweiten Lebenshälfte und haben vor allem eines – Zeit. Sie sitzen nicht desinteressiert nebeneinander wie im Flieger, sondern freuen sich auf den lebhaften Smalltalk mit den täglich wechselnden Tischnachbarn im Restaurant, wenn es draußen mal nicht so spannend ist, weil die Landschaft sich seit Stunden nicht verändert. Eine Tischreservierung, wie auf Kreuzfahrtschiffen oft noch üblich, gibt es beim „Canadian“ nicht.

Das Publikum ist ein bisschen wie Kanada selbst – multikulturell. Es sitzen Yankees, Australier, Deutsche, Schweizer, Engländer und Holländer im Speisewagen. Bahnenthusiasten wie Kurt und Andreas aus Zürich und Menschen wie der 70-jährige John aus New York, der einmal als Neunjähriger die USA mit dem Zug durchquerte: „Zu Weihnachten hat mir meine Frau eine Bahnreise geschenkt – nach Wunsch. Da habe ich mir den ,Canadian‘ ausgesucht.“

Für alle ist der Weg das Ziel, die Reise an sich, nicht der Ankunftsort. Zwischen den üppigen Mahlzeiten mit Lachs, Truthahn, Ente oder Spareribs, Eis-, Käse- und Schokoladenkuchen-Kreationen genießen die meisten Gäste das Aus-dem-Fenster-Schauen im Dome Car, einem doppelstöckigen Panoramawagen mit Glasdach und gewölbten Scheiben. Mit dem Blick auf der Pirsch nach Wildtieren, die sich auf dieser Reise einfach nicht zeigen wollen.

Auch Einheimische reisen mit dem „Canadian“. Zum Beispiel Angela. Sie will zur Hochzeit ihrer ältesten Tochter nach Vancouver und gönnt sich eine Bahnfahrt durch die Heimat. Bei kürzeren Strecken bevorzugen die Kanadier einen der beiden Zweite-Klasse-Waggons. Sie sind mit normalen Sitzen ausgestattet, ähnlich einem deutschen Intercity. Dort döst Debbie, die ihre Mutter in Winnipeg besuchen will. Sie reist mit Hund Disney. Er muss eineinhalb Tage im Gepäckwagen ausharren und darf – wie auch alle Raucher – nur alle paar Stunden an den kurzen Haltepunkten vor die Tür.

Winnipeg, die Hauptstadt der Prärieprovinz Manitobas, ist erreicht. Hier ist Schichtwechsel fürs Personal. Der „Canadian“ hat vier Stunden Aufenthalt. Vom Bahnhof führt der menschenleere Broadway zum Parlamentsgebäude, dem zweitgrößten nach der Bundeshauptstadt Ottawa. Reich wurde Winnipeg einst durch Weizenhandel, und es rühmt sich damit, die Geburtsstadt von Winnie the Pooh (Pu, der Bär) zu sein. „Ein Leutnant nahm einen kleinen Schwarzbären im Ersten Weltkrieg mit nach London, der später die Vorlage für die Bärengeschichten des englischen Autors Alan Alexander Milne lieferte“, hat Bernadette erzählt. Nach einem Cappuccino in The Forks, einem überdachten Markt in einem ehemaligen Lokschuppen, und einem Rundgang durchs Eisenbahnmuseum freuen sich alle wieder auf den Zug. Ab Winnipeg wechselt nicht nur die Crew – Bernadette wird durch Kevin ersetzt –, sondern auch die Landschaft. Weizen-, Mais-, Haferfelder wechseln sich ab. Auf endlosen Weiden grasen Rinder. „Hier noch einen Ahornbaum zu Gesicht zu bekommen ist völlig aussichtslos“, meint John überzeugt.

Die dritte Nacht wird unruhig. Regen klatscht gegen die Scheiben. Blitze flackern durch die Wolkendecke, als der Zug durch die Prärie Saskatchewans rumpelt. Je weiter er gen Westen rollt, desto stärker knarzen die Schienen, ächzen die Betten, klappern die Türen. Saskatchewan bei Nacht zu durcheilen sei das Beste, was einem passieren könne, frotzeln ein paar Kanadier an Bord. Wahrscheinlich tun sie ihren Landsleuten unrecht. Kurt aus Zürich jedenfalls ist begeistert: „Die Weite, das ist es doch, was Kanada von unserer engen Schweiz unterscheidet.“

Schließlich ist die Provinz Alberta erreicht. Jenseits der Hauptstadt Edmonton sind sie endlich am Horizont zu erkennen – die Rocky Mountains. Gegen Mittag trifft der Zug in Jasper ein. Mal wieder eine Chance für einen kurzen Fußmarsch entlang der übersichtlichen Hauptstraße, die Restaurants, Hotels, Souvenirläden und – natürlich – alles für den echten Cowboy bietet. Einige Passagiere unterbrechen hier die Reise für ein paar Tage, um die Gletscher, Seen und Wasserfälle der Nationalparks etwas näher als nur durchs Zugfenster zu erleben.

Zwischen 1881 und 1885 baute die Canadian Pacific Railway (CP Rail) eine Eisenbahnstrecke quer durch Kanada, um den Osten mit dem Westen zu verbinden. Gleichzeitig entstanden prachtvolle Hotels entlang der Strecke, die wohlhabende Touristen anlockten. Zeugnisse dieser Zeit sind das Banff Springs Hotel oder das Chateau Lake Louise, Luxushäuser, die von Kanadiern gern als „Schlösser der Rockys“ bezeichnet werden. Inzwischen gehören sie zur Luxushotelkette Fairmont. Heute konzentriert sich die Eisenbahngesellschaft nur noch auf den Gütertransport. Den Personenverkehr übernahm 1977 Via Rail.

Nach eineinhalb Stunden Aufenthalt verlässt der „Canadian“ Jasper und rattert weiter. Noch 1000 Kilometer und eine Nacht bis Vancouver. Als wir erwachen, schlängelt sich der „Canadian“ bereits am Fraser entlang. Der Fluss, der in den Pazifik mündet, ist jährlich Schauplatz der größten Lachswanderung British Columbias. Das fruchtbare Fraser Valley weitet sich bis zum flachen Delta. Schließlich schält sich die Silhouette von Vancouver aus dem Morgendunst. „Im Stanley Park gibt es ein paar Ahornbäume“, hat Kevin uns beim Abschied versichert. Und wir haben sie gefunden.

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