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Sammelleidenschaft. Preziosen wie dieses Heftchen mit den Konterfeis der Borussen-Helden aus den 1960er Jahren wurden dem BVB-Museum oft von Fans vermacht.

© Lerchenmüller

„Borusseum“: Und ewig fällt das Wembley-Tor

In dieser Welt zählt nur Schwarz-Gelb: Das „Borusseum“ in Dortmund fasziniert mit Fußballgeschichte(n).

Ich war Bernhard Wessel. Davor war ich Wolfgang „Schwarzer Panther“ Fahrian und auch Petar Radenkovic, („Bin-I-Radi-bin-I-König“). Aber Bernhard Wessel, der Torhüter von Borussia Dortmund, hatte den beiden anderen gegenüber als Vorbild für mich einen entscheidenden Vorteil: Er war nur 1,75 Meter groß und doch ein Held auf der Linie. Schwächen bei der Strafraumbeherrschung, aber tolle Reflexe – wir hatten einiges gemeinsam. Und wenn es ein 1,75-Meter-Mann zum gefeierten Bundesligakeeper bringen konnte, sollte es auch einem 1,65-Meter-Mann gelingen, in die großen Stadien einzuziehen.

Das ist lange her. Bernhard Wessel, geboren 1936, spielte von 1961 bis 1969 in der Bundesliga für Borussia Dortmund und brachte es auf, nun ja, 87 Einsätze – ein verdienter Held der Ballarbeit. Mal sehen, welche Spuren er im Gedächtnis seines Vereins hinterlassen hat, und was im „Borusseum“ an ihn erinnert, der Ruhmeshalle des Vereins im Signal Iduna Park.

Eine Welt in Schwarz-Gelb tut sich auf – und aus einer nachgebauten Kneipe dringen Lachen und Gläserklirren vom Band. Im Wandschrank steht eine Platte mit Kotelett, Blutwurst und Schweinebraten. Aus Plastik, natürlich. In den ersten Jahren wurden die Auswärtsmannschaften nach dem Spiel bei Borussia in der Gaststätte „Zum Wildschütz“ mit einer Schlachtplatte abgefüttert. Auf Bierdeckeln sind die Anfänge notiert: Im Jahre 1909 gründeten 18 junge Männer einen Ballspielverein und benannten ihn vermutlich nach der nahen Borussia-Brauerei. Gespielt wurde in blau-weißem Hemd und schwarzer Hose. „Die rote Schärpe sollte die Verbundenheit mit der Arbeiterbewegung versinnbildlichen.“

Er ist einer von vielen, dieser BVB 09. Fußballklubs schießen Anfang des 20. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden. Wie daraus einer der erfolgreichsten Vereine Deutschlands wurde, dokumentiert das Borusseum auf unterschiedlichen „Themeninseln“ mit Fotos, Trikots, Abzeichen, Tabellen und kurzen Filmen.

Da ist Franz Jacobi, der erste langjährige Präsident. August Lenz, der erste Nationalspieler. Die „Weiße Wiese“, der erste Fußballplatz – präziser als die Vereinsgeschichte hier ist auch die Thronfolge der Staufer in den Geschichtsbüchern nicht festgehalten. Die Nazi-Zeit wird nicht ausgespart: Es gab eine Führung, die den Verein stramm auf Kurs bringen sollte. Aber da waren auch drei Mitglieder, die Flugblätter gegen Hitler verteilten und an Ostern 1945 von der Gestapo ermordet wurden.

„An Gott kommt keiner vorbei – außer Stan Libuda“

Komm’ her, Kleiner. Siggi Held präpariert „Stan“ Libuda fürs Festbankett.
Komm’ her, Kleiner. Siggi Held präpariert „Stan“ Libuda fürs Festbankett.

© Lerchenmüller

In der Nachkriegsecke schimmert der Satinbüstenhalter, den Willi Kronsbein im Jahre 1947 klammheimlich im Gepäck seines Kollegen Erdmann versteckte. Was dazu führte, dass Frau Erdmann wutentbrannt in die BVB-Räume stürmte und zum ersten Mal eine Frau an einer Mannschaftssitzung teilnahm ...

Der graue Kessel der Themeninsel „Stadion Rote Erde“ ist bedeckt von Namen in Großbuchstaben: Schlebrowski Kurrat Cyliax Burgsmüller … – Heroen am Ball in ihrer Zeit, und – nein, Bernhard Wessel findet sich nicht darunter. Zwischen den Inseln sind immer wieder kleine Do-it-yourself-Ecken aufgebaut: Das Borussenquiz wendet sich mit kniffligen Fragen an Spezialisten. An einem Terminal lassen sich die großen Derbys gegen den Schalke 04 abrufen. Im Videogästebuch kann sich jeder mit Bild verewigen. Und wer plötzlich keine Lust mehr auf Kopffußball hat, legt eben Hand an: Die beiden Kickertische sind stets dicht umlagert.

Dann aber beginnt die Zeit der Erfolge. 1947 wird der BVB Westfalenmeister. Das Spielerbuch von Trainer Fabra verrät, dass die Männer im Hauptberuf Schlosser, Rohrleger, Sortierer oder Bergmann sind. Ab 1949 dürfen sie offiziell dazuverdienen: Zwischen 150 und 320 Mark bezahlt der Verein. 1956 und 1957 wird Dortmund Deutscher Meister – beide Male mit exakt der gleichen Mannschaft. „Kein König, kein Kaiser könnte stürmischer begrüßt werden als die siegreiche Fußballmannschaft“, jubelt der Kommentator aus dem Off. Und dann, 1963, ist es wieder so weit. Der BVB gewinnt erneut die Deutsche Meisterschaft. Im letzten Endspiel vor der Fußball-Bundesliga. Und im Tor gegen den 1. FC Köln steht: Bernhard Wessel – „ein überragender Rückhalt“ beim 3:1-Sieg.

Die Ära der „Jahrhundertspiele“ bricht an, jene Zeit, in der ich, als Allgäuer eigentlich 1860 München verpflichtet, mit dem BVB aufstand, den Tag verbrachte und einschlief. Das goldgelbe Trikot von Reinhold Wosab erinnert an das 5:0 gegen Benfica Lissabon. Reinhard „Stan“ Libudas Bogenlampe, sein Heber aus 25 Meter Entfernung, bringt 1966 den Europapokalsieg. Erwachsenen Fußballignoranten verdanke ich, dass ich die Sensation unter der Bettdecke am Transistorradio mitfeiern muss.

„An Gott kommt keiner vorbei – außer Stan Libuda“, dichtet man im Ruhrgebiet. Im körnigen Fernsehausschnitt ist das Siegtor kaum zu erkennen. Bei der Übertragung vom Empfang in Dortmund aber überschlägt der Reporter sich beinahe: „Elf glückliche Männer vom Borsigplatz, elf glückliche Jungs aus dem Land der Roten Erde kehren zurück aus dem Hampden-Park.“ Ach, is dat schön, wie sie hier sagen – begeisterter wurden auch siegreiche Armeen nicht empfangen.

Millionen Miese, verschenkte Punkte, Abstieg

Indizien. Torjägerkanone, güldene Schuhe – Hinweise auf Lothar „Emma“ Emmerich
Indizien. Torjägerkanone, güldene Schuhe – Hinweise auf Lothar „Emma“ Emmerich

© Lerchenmüller

Versteht sich, dass den beiden Größten der sechziger Jahre, den „Terrible Twins“, wie englische Zeitungen sie tauften, je eine extra Vitrine gewidmet ist. Lothar „Gib-mich-die-Kirsche“ Emmerich, 2003 gestorben, hat mit seiner Torjägerkanone, dem Nationalmannschaftstrikot und den vergoldeten Europapokal-Schuhen seinen Platz im Fußballhimmel sicher. Den Spind seines Nebenstürmers Siggi Held zieren Fotos, und eines davon ist beinahe rührend: „Siggi Held hilft Reinhard Libuda beim Binden der Krawatte 1966“. Zwei Jungs, die eben überstandene Pubertät noch im Gesicht, sind in einer für sie viel zu großen Welt angekommen.

Es ist vor allem das Auf und Ab, die Mischung aus Triumphen und schmachvollen Niederlagen, Helden und Schurken, Finanzkrisen und fetten Einnahmen, die den Fußball so interessant macht. Von all dem hat Borussia Dortmund einiges zu bieten: Millionen Miese, verschenkte Punkte, Notvorstand, Abstieg, Relegation.

1974 wird das Westfalenstadion eingeweiht und löst die „Kampfbahn Rote Erde“ ab, die immer noch klein und bescheiden neben dem großen Bruder existiert. Immer schneller dreht sich nun das schwarz-gelbe Karussell, immer neue große Namen fallen: Jürgen Kohler, Andreas Möller, Julio Cesar. Chapuisat, Riedle, Mill. Und immer wieder sind unvergessliche Momente festgehalten: Norbert Dickel wird im Pokalendspiel 1989 mit seinen Toren zum „Held von Berlin“. Lars Ricken hebt im Europapokalfinale 1997 zehn Sekunden nach seiner Einwechslung aus 25 Metern den Ball über den Torhüter und macht den 3:1-Sieg gegen Juventus Turin klar. Jürgen Klopp erhält die Bierdusche zur Meisterschaft 2011. Selbst seine Brille, die nach dem Freudensprung von Nuri Sahin zerbrach, liegt wie eine Reliquie hinter Glas.

Eine kleine Leseecke lädt ein, etwas Luft zu holen. „Und ewig fällt das Wembley-Tor“ liegt auf dem Tisch, die Biografie von Hans Tilkowski. Sollte der große Keeper, der Fußballer des Jahres 1965 etwa ...? Und ja, er tut es: Er erweist dem Mann, den er aus dem Borussentor verdrängt hat, seine Reverenz: „Für einen Schlussmann ist er etwas klein geraten, aber er verfügt über tolle Reflexe. Ein Flieger auf der Linie, wie Wolfgang Fahrian. Am Titelgewinn der Schwarz-Gelben hat er großen Anteil. Die BVB-Fans lieben Bernhard Wessel.“ Genau. Genau so war er. Genau so waren wir. Klasse Flieger – aber es fehlten uns, wie es im besten Fußballerdeutsch heißt, für die ganz große Bühne dann doch „die entscheidenden Zentimeter“.

Aber das Allerheiligste wartet. In der „Schatzkammer“ erklingen ehrfurchtgebietend Fanfaren. Doch die Meisterschale und die unterschiedlichen Pokale, die im Dunkel silbrig schimmern, wirken seltsam kalt und seelenlos. Ein Haufen versilbertes Metall – darum dreht sich letztlich alles?

„Vier Minuten für die Ewigkeit“

Himmelspforte.
Himmelspforte.

© Lerchenmüller

Ja doch. Und: Nein, natürlich nicht. Nicht nur und nicht vor allem. Die glänzenden Schüsseln und Töpfe sind die Kirschen auf der Torte. Worum es eigentlich geht im Fußball, erschließt sich viel eher an der „Gelben Wand“ der Fans. Hier wummert das Herz des BVB wie eine Dampframme. Kutten mit Dutzenden von Aufnähern finden sich da, selbst genähte Krawatten und selbst gehäkelte Taschen in Schwarz-Gelb. Einer hat eine Nudelrolle mit den Autogrammen von Spielern verzieren lassen, ein anderer alle Singles mit BVB-Liedern gesammelt.

Fans erzählen, „wie Matthias Sammer einmal einem kleinen Jungen seinen ersten Schal zurückgab“, oder wieso „Hajnals Tor mein Leben rettete“. Und per Audioguide lässt sich detailliert verfolgen, wie die beiden Ultra-Gruppen zum 100. Geburtstag des Vereins am 12.12.2009 ihre Choreografie vorbereiten: Aus Einzelteilen setzen sie morgens um zehn eine 6500 Quadratmeter große Fahne zusammen. Sechs Monate Arbeit und 15 000 Euro stecken in dem Projekt. Vor dem Spiel gegen den VfL Bochum wird sie von den Fans aufgezogen und bedeckt als riesiges schwarz-gelbes Gemälde die Südkurve: „Vier Minuten für die Ewigkeit.“

Und hier, in der Schatzkiste der Fans, kommt er dann doch noch einmal zu Ehren: Aus einem linierten Schulheft blickt im Kreise von Wolfgang Paul, Hoppy Kurrat und Aki Schmidt ein ordentlich gescheitelter Mann im schwarzen Trikot dem Betrachter entgegen. Ein wenig skeptisch schaut er von unten hoch, musste er doch vor kurzem seinen Platz für Hans Tilkowski räumen, der in der linken oberen Ecke des Heftes thront.

Es ist Bernhard Wessel. Einer von ganz oben. Einer jener 325 Spieler, die seit Bestehen der Bundesliga für Borussia Dortmund aufliefen. 1,75 Meter groß. Ganze zehn Zentimeter größer als ich. Ganze sieben Zentimeter kleiner als Hans Tilkowski. Zentimeter, die den Unterschied ausmachten.

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