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Reise: Erste Reihe am Fluss

Wenn im Alten Land die Obstbäume blühen, kommen die Radler. Bei der „Kaffeeklappe“ rasten sie direkt auf der Elbe

Mit sanftem Klatschen schwappt das Wasser gegen den Anleger. Die Sonne wärmt schon ganz ordentlich, vom Wasser her weht eine frische Brise. Schafe grasen an den schrägen Hängen des Deichs, zwei Jogger traben oben auf der Krone. Die Ruhe animiert dazu, für ein paar Minuten die Augen zu schließen. „Achtung, gleich wird’s stürmisch“, unterbricht Ralf Exner die Stille. Der Mann ist Wirt der „Kaffeeklappe“, einem kleinen Café, das auf einem Anleger direkt in der Elbe liegt. Eben ist wieder ein großes Containerschiff auf dem Weg zum Hamburger Hafen vorbeigeglitten. Mit einiger Verzögerung erreicht die Welle des Riesen das Elbufer. Da muss man in der „Kaffeeklappe“ seine Tasse schon mal festhalten.

Es ist ein schöner, ruhiger Vormittag in Hollern-Twielenfleth. In dem kleinen Dorf am Deich leben die Menschen nah am Wasser und doch mitten drin im Alten Land, für seine riesigen Apfelplantagen bekannt: 1200 Quadratkilometer groß ist das Gebiet zwischen dem Flüsschen Schwinge im Westen und der Süderelbe im Osten. In dem größten geschlossenen Obstanbaugebiet Deutschlands leben knapp 200 000 Einwohner, die meisten in Stade und Buxtehude. 300 000 Tonnen Äpfel werden in jedem Jahr geerntet, hinzu kommen die bekannten „Knubberkirschen“, dicke, saftig-rote Früchte, in denen die ganze Kraft dieses gigantischen Obstgartens steckt.

Für die Apfelbauern aber sind die Kirschen eher nebensächlich. Dabei sind es die Kirschblüten, die jedes Jahr Ende April den Saisonauftakt anzeigen. Die weißen Blüten vermitteln eine Ahnung davon, was während der Apfelblüte rund einen Monat später zu erwarten ist. Malerische Ecken wie die strahlend weiße Hogendiekbruck in dem kleinen Ort Steinkirchen liefern dann postkartenreife Motive. Dort schlängelt sich die Lühe, einer der vielen kleinen Wasserwege – „Goldadern“ wie die Bauern sagen – durch die Obstplantagen, bevor sie in Grünendeich in die Elbe mündet.

Ein paar Möwen fliegen laut krakeelend über die „Kaffeeklappe“ hinweg, eilig hinter dem Frachter her, der das Elbwasser mächtig aufquirlt. In der Ferne sind die Kräne des Hamburger Hafens zu erahnen, wo das Containerschiff in einer guten Stunde seine Ladung löschen wird. Auch die großen Kreuzfahrtschiffe wie die „Queen Mary 2“ kommen hier vorbei – und erscheinen dann zum Greifen nah.

Ralf Exner kennt die Ankunftszeiten. Auf einem Zettel an der Wand des weiß gestrichenen Holzhäuschens können auch seine Besucher die Fahrpläne der Ozeanriesen nachlesen. „Danach fragen viele, denn bei mir sitzen die Gäste ja praktisch in der ersten Reihe“, sagt der braun gebrannte Mann. Wenn die großen Luxusliner die Elbe auf- oder abwärts fahren, ist der Anleger besonders gut besucht. „Aber eigentlich kommen die meisten hierher, weil es so schön ruhig ist.“ Das leichte Wanken und Schwanken des Pontons schätzten seine Gäste sehr, sagt Exner. Kaffee und Bier, Eis und Frikadellen – beim kleinen Imbiss zwischendurch nimmt man das sanfte Schaukeln gern in Kauf. Ist das heiße Würstchen fertig, bimmelt Exner die Schiffsglocke – und Marmorkuchen oder Apfelstreusel können seine Frau und seine Mutter kaum so schnell backen, wie er bestellt wird.

Seine besondere Lage und den Namen verdankt das schwimmende Wirtshaus den Skippern, die hier früher kurz festmachten, um sich durch die Klappe einen Kaffee reichen zu lassen. Heute machen vor allem Radfahrer gerne Station. Oder es kommen Gäste, die zuvor das kleine Leuchtturmmuseum auf der anderen Seite des Deichs besucht haben.

Der Blick schweift umher und bleibt auf einer alte Mühle am Ende der Straße hängen. Mühlen gibt es viele hier, zwölf Stück sind über das Alte Land verteilt, dieser aber fehlen zwei Flügel. Die graue Tür steht offen, zwischen zahlreichen, großen braunen Papiersäcken steht Hein Noodt, der Müller. „Im vergangenen Jahr ist der zweite Flügel gebrochen“, berichtet er, während er einen Sack mit Dinkelmehl an die rund geformte Backsteinwand lehnt. Noodt ist 64 und arbeitet nach wie vor als Müller in der Mühle von Twielenfleth. So, wie es die Noodts seit fünf Generationen machen. Mit dem Mehl beliefert er Bäckereien und verkauft auch Fünf-Kilo-Tüten verschiedener Sorten an Privatkunden, direkt in der Mühle. Noodt schaut auf die Uhr. Mittagspause – die ist ihm heilig. Für eine Stunde schließt er die Türen der „Venti Amica“, der „Freundin des Windes“.

Seit 1848 ist seine Windmühle, ein sogenannter Gallerie-Holländer, im Dienst. Große, ausgediente Mühlsteine lehnen an der Außenwand. Man kann nur ahnen, wie viel Mehl sie wohl gemahlen haben.

Hein Lühs hat keine Mittagspause. Sein Obsthof steht in Jork, der heimlichen Hauptstadt des Alten Landes. Aus Zufall erfand der Bauer vor mehr als zehn Jahren den Herzapfel – heute ist er sein Markenzeichen. „Mir fiel irgendwann mal ein Apfel in die Hände, auf dem sich ein Blatt festgeklebt hatte. Als ich es abmachte, war die Form des Blatts wie aufgemalt auf dem Apfel zu sehen.“ So kam er auf die Idee, Herzen auf die fast reifen Äpfel zu kleben. Nach der Ernte entfernte er die Schablonen wieder.

Die Kunden waren begeistert von den besonderen Herz-Äpfeln. Lühs entwickelte seine Idee weiter und bringt heute mit speziellen Lasern nahezu jede gewünschte Form oder Schrift auf die Äpfel. „Die ungewöhnlichste Anfrage kam mal von einem Kunden aus Dortmund: Der wollte den Text ‚14 schöne Jahre und was nun?‘ auf einem Apfel verewigt haben.“ Selbstverständlich erfüllte ihm Bauer Lühs den Wunsch. Ob die Beziehung des Dortmunders den Apfel überlebte, weiß er allerdings auch nicht. Sein Apfelhof wird heute von vielen Reisegruppen angesteuert. Im Hofladen finden sich zahlreiche Souvenirs und – selbstredend – alle erdenklichen Apfelspezialitäten.

Auch an der „Kaffeeklappe“ haben sich inzwischen die ersten Gäste eingefunden. Bei Kaffee und Apfelkuchen genießen sie die Ruhe und warten auf die „Queen“ – oder eines der übrigen Schiffe, die auf der Elbe fahren und den Kaffee in der Tasse schaukeln lässt.

Claudius Lüder

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