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Winterstille. Viele Kilometer, nach rechts und links, erstreckt sich der feine Sandstrand bei Graal-Müritz.

© imago/Westend61

Graal-Müritz: „Das schönste Ostseefleckchen“

Graal-Müritz war ein Ort für Schriftsteller. Franz Kafka verliebte sich hier, Robert Musil auch. Fallada kam als Kind, Tucholsky wohnte am Wald.

Die Treppe ist noch da. Fünf steile Holzstufen hoch lehnt sie an einer Wand im Heimatmuseum von Graal-Müritz. Joachim Weyrich, Leiter der Einrichtung, hat sie aus dem Bauschutt von „Haus Kinderglück“ gerettet. „Ich musste es tun“, sagt er, „denn dort ist doch Kafka rauf- und runtergestiegen.“ Alle Bemühungen, das Gebäude oder wenigstens die Fassade zu retten, waren vergeblich. Im Oktober 2007 wurde das „Haus Kinderglück“, in dem Franz Kafka die letzte Liebe seines Lebens gefunden hatte, abgerissen.

Das Inserat in einer Prager Zeitung hatte den Schriftsteller 1923 an die Ostsee gelockt. Er mietete ein Zimmer mit Balkon im „Haus Glückauf“, Strandstraße 12 in Müritz. Damals war das Seebad genau wie Graal ein eigenständiger Ort, erst 1938 sollten die Nazis eine Zusammenlegung verfügen.

Ganz in der Nähe von Kafkas Quartier befand sich das „Haus Kinderglück“, ein Ferienheim für jüdische Kinder aus Berlin. Die 25-jährige Dora Diamant arbeitete dort als Betreuerin – und der 16 Jahre ältere Kafka verliebte sich in „das wunderbare Wesen“. „Kafka war immer heiter“, erinnerte sie sich später und pries seine „braunen, scheuen Augen“, die „aufleuchteten, wenn er sprach“. Hochzeitspläne wurden geschmiedet, eine Zukunft geplant, doch zur Eheschließung kam es nicht mehr. Kafka, gesundheitlich schon länger angeschlagen, stirbt am 3. Juni 1924. Auch das „Haus Glückauf“ ist verschwunden, 2002 musste es einem Neubau weichen.

Musil fand hier seine Martha

Andere Orte schmücken sich mit ihren Malern“, sagt Weyrich, „Graal-Müritz hatte die Literaten.“ Und, allen Wandlungen und Verschandlungen zum Trotz: Noch immer kann man sich auf ihre Spuren begeben. Das Waldhotel in Graal zum Beispiel existiert noch, nahezu unverändert. Hier verbrachte Robert Musil den Sommer 1906. In seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ wird Graal als Ortsname erwähnt.

Waldhotel. Hier logierte, frisch verliebt, Robert Musil im Sommer 1906.
Waldhotel. Hier logierte, frisch verliebt, Robert Musil im Sommer 1906.

© Stefan Berkholz

Auch Musil hatte sich in der Gegend Knall auf Fall verliebt. Beim Umsteigen in Rövershagen verguckte er sich in seine spätere Ehefrau. Musil ging sofort aufs Ganze. Er folgte der dunkelhaarigen Schönheit Martha Marcovaldi, die mit ihren beiden Kindern unterwegs war – und nahm Quartier im selben Hotel. Binnen eines halben Jahres wurde Verlobung gefeiert.

Einige Jahre später radelte der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr von Rostock aus an die Küste. Im Juni 1915 notierte er: „Graal, waldbegraben, an einer reinlich frischen Brandung, sagt mir sofort zu. Diese Akazienblütendüfte neben Wald- und Salzluft. Scheint mir das schönste Ostseefleckchen. Im ,Seeschloß‘ geblieben.“ In einer Anzeige der noblen Herberge hieß es seinerzeit: „32 gut eingerichtete Zimmer, eine ausgezeichnete Küche, alle Mahlzeiten werden an kleinen Tischen serviert.“ Das Gebäude, schräg gegenüber vom Heimatmuseum, ist nach vielen Umbauten nicht mehr wiederzuerkennen.

1880 eröffnete das erste Hotel

Vor rund 200 Jahren, 1819/20, waren die ersten Badegäste nach Müritz gekommen. Wer hierher reiste, suchte nicht den mondänen Badebetrieb von Doberan-Heiligendamm etwa, sondern naturverbundenes Leben. Die Einheimischen kamen mit Fischfang und Kleinlandwirtschaft (Büdnerei) über die Runden. Urlauber eröffneten eine neue Einkommensquelle. Man vermietete Zimmer, Wohnungen oder ganze Häuser. Vor allem in der Ribnitzer Straße sind noch einige der reetgedeckten alten Bauernhäuser mit den kleinen Butzenscheiben und schön dekorierten Holztüren erhalten.

1851 wurde Müritz erstmals als Seebad erwähnt. Doch noch 20 Jahre später gab es kein einziges Hotel im Ort, nicht mal eine Pension. Das Hotel „Anastasia“ (heute steht an seiner Stelle das Rathaus) wurde 1880 eröffnet. Müritz wurde bekannt. Acht Jahre später meldete der Ort stolz: „Sommergäste in allen Häusern.“

Neue Hotels im Stil der Bäderarchitektur schmückten Müritz. Türmchen, Veranden und Balkongalerien waren en vogue. Warum die Gäste ausgerechnet die Ostsee favorisierten, erschloss sich den Einheimischen nicht. Einer soll vermutet haben: „Um Dannennadeln tau freten un Seeluft tau supen.“ Das können wir auch bieten, dachten sich die Graaler um die Jahrhundertwende und ließen schicke Prospekte und romantische Postkarten drucken.

In einem Reiseführer von 1906 heißt es: „Graal, seit einigen Jahren als Seebad entstanden, ist eine ,Dependance’ von Müritz und wird, besonders wenn diese überfüllt ist, gern aufgesucht.“ In Graal dürften sie vor Wut geschäumt haben, denn ihr Ort, so glaubten sie, sei doch viel schöner. Sie reimten: „In Graal amüsiert man sich, in Müritz erholt man sich.“ Oder: „In Graal weit man tau leven, in Müritz hett man tau leven.“ Dabei gab es nur in Müritz das „Hanschenviertel“, so genannt, weil die dort logierenden eleganten Damen feine Handschuhe zu tragen pflegten.

"Wir entwickeln uns zum Weltbad"

Müritzer und Graaler lebten nebeneinanderher an der gemeinsamen Küste – und waren sich doch nicht recht grün. Als es noch keine Kirche gab, mussten die Dörfler zum Gottesdienst nach Ribnitz pilgern. Dort gingen die Müritzer dann in die Klosterkirche – die Graaler hingegen in die Stadtkirche. 1908 wurde, in etwa an der Grenze zwischen beiden Orten, eine Kirche im neoromanischen Stil gebaut. „Aber noch immer sitzen die Graaler auf der einen Seite und die Müritzer auf der anderen“, erzählt Museumsleiter Weyrich.

Hans Fallada, der 1906 mit seinen Eltern in die Gegend kam, erinnerte sich später: „In Müritz gab es schon Berliner, Müritz war ein aufblühendes Seebad, aber in Graal herrschte noch Friede.“ Baden gehörte nicht nur für ihn zur lästigen Pflicht. „Gott ja, man war nun mal an der See, und es gehörte eben dazu, aber im Grunde genommen war das Waten viel schöner!“, befand er.

Immer mehr Menschen kamen zur Erholung. „Man war den Städten entflohen und hockte jetzt, angesichts der Unendlichkeit, noch viel enger nebeneinander als in Hamburg, Dresden oder Berlin“, notierte Alfred Kerr. Die Hoteliers rieben sich die Hände.

In seinem 1926 erschienenen Roman „Haus Ithaka“ lässt Rudolf Presber den erfundenen Müritzer Kurdirektor Oberst von Kuckuck schwärmen: „Wir entwickeln uns zum Weltbad! Einfach zum Weltbad!“ Man solle sich nur mal die Kurlisten anschauen: alter Mecklenburger Adel und nicht dieser preußische Adel, der sich traditionell in Heiligendamm langweile. Der Oberst jubelt: „Also Warnemünde wird ja platzen, wenn das so weitergeht ...“

"Komm nach Graal, doch komme bald!"

Wie einst. In der Ribnitzer Straße stehen noch Büdnerhäuser.
Wie einst. In der Ribnitzer Straße stehen noch Büdnerhäuser.

© Stefan Berkholz

Aber war es wirklich schick? 1924 empfahl Kurt Tucholsky seiner Geliebten Mary ein paar nette Orte an der Küste, darunter auch: „Müritz, bei Graal (Mecklenburg). Sehr nett, sehr grün, sehr unelegant.“ Mit seiner ersten Ehefrau Else Weil hatte er vier Jahre zuvor dort Urlaub gemacht. Abgestiegen waren sie in der Pension Buchenhof. Das Gebäude in der Parkstraße steht noch. Es beherbergt heute das Heimatmuseum.

Zwischen 1933 und 1945 wurde auch in Graal-Müritz „Kraft durch Freude“ verordnet. Auf einer Postkarte jener Jahre steht, wie in dunkler Vorahnung gereimt: „Willst Du Sonne, See und Wald, komm nach Graal, doch komme bald!“

Nahezu unzerstört übernahm die Rote Armee den Ort am 2. Mai 1945. Bald wurden Ferienheime eingerichtet. Statt „Junker, Unternehmer und deren parasitärer Anhang“ sollten hier nun die „Werktätigen Kraft schöpfen“. 1953 wurde die berüchtigte „Aktion Rose“ durchgesetzt: Hoteliers und Pensionswirte wurden enteignet. Für den Erhalt der Bausubstanz fühlte sich fortan niemand mehr zuständig. „Die Mangelwirtschaft führte zu zunehmendem Verfall“, sagt Heimatforscher Weyrich.

Die Menschen aber benötigten Wohnungen. An einem neu konzipierten „Ostseering“ wuchsen Plattenbauten in die Höhe. Kein malerischer Anblick, aber es hätte noch viel schlimmer kommen können. Ein Plan von 1971 wies 40 zusätzliche mehrstöckige Großblocks aus, zwei Riesenrestaurants mit je 600 Plätzen sollten entstehen. Dazu kam es nicht mehr.

1980 eröffnete Harry Tisch, der Vorsitzende des FDGB, ein Gewerkschaftsferienheim in einem Buchenwald, keine 100 Meter vom Meer entfernt. 40 Millionen Mark soll es gekostet haben. Das Haus ist heute ein IFA-Ferienhotel. Ein Riesending. Kein Investor würde heute noch so viel Platz für eine Lobby verschwenden.

Bulldozer zerstörten die Dünenlandschaft

Gibt es das Schwimmbad noch? „Ja“, sagt ein Mitarbeiter, aber es sei nun in einen Wellnessbereich eingegliedert und nur noch 1,30 Meter tief. „Früher hatte es eine Wassertiefe von zwei Metern und verfügte sogar über Startblöcke.“ Der DDR-Gewerkschaftsboss verbrachte hier viele Urlaube, und selten waren mehr als 40 Gäste zeitgleich im Haus. Auf der Gehaltsliste sollen allerdings 130 Mitarbeiter gestanden haben. Gewöhnliche Bürger kamen nicht mal in die Nähe. „Es war rundherum weiträumig abgesperrt, und vorn an der Straße gab es ein Pförtnerhäuschen“, heißt es.

Raum für Literaten. Im Heimatmuseum werden Geschichte und Geschichten erzählt.
Raum für Literaten. Im Heimatmuseum werden Geschichte und Geschichten erzählt.

© Stefan Berkholz

Eine Fotografie aus dem Jahre 1905 zeigt den Maler Lyonel Feininger auf der hohen Düne am Graaler Strand. Die wilde Dünenlandschaft war ein Wahrzeichen des Ortes. 1965 wurde sie mit Bulldozern eingeebnet. „Nach Versuchen im Strömungskanal glaubte man, abgeflachte Dünen würden Wind und Sturmflut besser trotzen“, erklärt der Kunsthistoriker Werner Timm in seinem großartigen, 1994 erschienenen Buch „Hier will ich bleiben“ über die Geschichte von Graal-Müritz.

Noch aber gibt es ja Dünen am schier unendlich wirkenden Strand. Akribisch werden sie mit Strandhafer befestigt – und vielleicht werden sie wieder wachsen.

Zahlreiche alte Gebäude, die man nach der Wende hätte retten können, wurden abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit „modernisiert“. Einige aber können noch, fast in alter Schönheit, bewundert werden. Aber auch etliche Siedlungen mit gesichtslosen Ferienwohnungen sind entstanden. Graal-Müritz hat sich der neuen Zeit angepasst.

Urlauber radeln lieber zum Darß

Und eine Posse gibt es auch noch zu berichten. Die Rosa-Luxemburg-Straße erhielt 1993 den Namen „Zur Seebrücke“, „aus wirtschaftlichen Erwägungen“, wie es zur Erklärung auf einer Erinnerungsstele heißt. Hintergrund sei die „bessere Orientierung für die Gäste“, verrät Bürgermeister Frank Giese (parteilos). Der neue Name zeige Urlaubern deutlich, dass sie auf dem Weg zur Seebrücke sind. Werner Timm beobachtete noch andere kuriose Veränderungen: „... dass nun ein Laden kein Laden mehr ist, sondern ein Shop“.

Über die Jahre hat sich Graal-Müritz offenbar ein bisschen verzettelt und die Kontrolle über seine ursprüngliche Schönheit verloren. Der Charme des Ortes erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Aber dann will man nicht mehr weg. Vor allem im Winter erlebt man jene Abgeschiedenheit, die Schriftsteller einst priesen. Einsame Wege führen durch die Wälder, die „Rostocker Heide“ beginnt gleich hinter dem Ort.

Im Sommer aber wird es wohl eng und trubelig werden, fürchten wir. „Nein, nein“, beruhigt die Wirtin vom Hotel Kähler, „oft sehen Sie tagsüber kaum Gäste.“ Wie, bitte? „Wir liegen einfach zu zentral“, erklärt die Wirtin, „die Ferne lockt!“ Urlauber radelten gern Richtung Westen nach Warnemünde oder nach Osten zum Darß. Und kehrten dann erst in der Dunkelheit zurück. Die Wirtin guckt ein wenig betrübt, so als würden die Urlauber ihr Graal-Müritz nicht hoch genug schätzen.

Viele fahren sowieso achtlos an dem Ort vorbei. „Kein Vergleich mit Heringsdorf“, trompetete eine Berlinerin. Graal-Müritz wird wohl nie ein Weltbad werden. Zum Glück, finden wir.

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