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Erschröckliches in der Altstadt. Detail der Fassade des Knochenhaueramtshauses am Hildesheimer Marktplatz.

© Urs Schweitzer, mauritius

Hildesheim: Wo sich die Balken biegen

St. Michaelis und andere Wunder: Hildesheim wird 1200 Jahre alt – und feiert seine Geschichte.

Heiliger Bernward, Schreck lass nach! Es fiept und piept in höchsten Tönen unter der Platte, die den Sarkophag des Bischofs Bernward schützt. Eigentlich spricht nichts für Übersinnliches: Zum einen starb der Bischof vor fast 1000 Jahren in Hildesheim, zum anderen ist der steinerne Sarg hier in St. Michaelis nachweislich leer.

Aber das Fiepen will nicht aufhören. Sekunden der Schockstarre – bis sich das Rätsel in den Gesetzen der Physik auflöst. Zwei Granitplatten vor dem Sarkophag sind etwas lose. Wer auf ihnen das Gewicht vom Stand- aufs Spielbein verlagert, der erzeugt Reibungsfiepen.

Bernwards leerer Sarkophag steht, eingelassen in einer Bodenvertiefung, in der Krypta von St. Michaelis, einem frühromanischen Bauwerk im Westen des Hildesheimer Zentrums. Ehrfürchtig nannten die Menschen im Mittelalter das Trumm „Gottesburg“, weil St. Michaelis und das benediktinische Kloster wie eine Festung in die Stadt ragten. Die mächtige Anlage, bestätigt die Stadtführerin Christel Tasiaux, sei für sie wie das steingewordene Kirchenlied: „Ein’ feste Burg ist unser Gott“.

Heute gehört der Bau zum Unesco-Weltkulturerbe – auch wegen der bemalten Holzdecke aus dem 13. Jahrhundert. Wie auf einer frommen Moritatentafel, die sich über das gesamte Langschiff der Kirche erstreckt, hat ein unbekannter Benediktinermönch biblische Geschichten chronologisch illustriert, vom paradiesischen Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht. Zur Vermeidung von Genickstarre beim staunenden Publikum kann das Werk heute in einem Spiegel ebenerdig und schmerzfrei studiert werden.

Alles fiel in Schutt und Asche

Frage an die mitgereisten Kinder: Wer findet am schnellsten heraus, mit welcher Holztafel da oben was nicht stimmt? Antwort: Es ist hinten rechts die etwas hellere Tafel mit dem Weltenrichter Christus, die im 20. Jahrhundert ersetzt werden musste. Die Belohnung kann man wunderbar im El-Puente-Weltcafé zu Füßen der Michaeliskirche genießen, wo es allerlei Korrektes, Nachhaltiges und Faires zu essen und zu trinken gibt. Nicht weit entfernt, im Kafenion im Fachwerkviertel, ist eine beliebte Kakaostube, wo die Wirtin Irini Heimer ihre heiße Schokolade mit Blockschokolade zubereitet, dazu sind hausgemachte Kuchen und Torten im Angebot.

Die wundersame Holzdecke der Michaeliskirche und andere Kostbarkeiten konnten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden; das Gotteshaus selbst wurde bei den alliierten Bombardements vor genau 70 Jahren, wie ganz Hildesheim, in Schutt und Asche gelegt. Ihre Renaissance hat die Michaeliskirche auch dem Einsatz eines jüdischen Amerikaners zu verdanken, an den eine Tafel im Eingang erinnert: „Der Wiederaufbau wurde gefördert von Mr. B. R. Armour, USA, einem Sohn des verfolgten Volkes“. Dieses Engagement des Philantropen Bernard R. Armour war und ist so bewegend, weil ihn biografisch mit Hildesheim so gut wie nichts verband und ihm dennoch an der Rekonstruktion lag. Als Sohn des verfolgten Volkes.

Auch der Hildesheimer St.-Marien-Dom aus dem 9. Jahrhundert wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und schaffte es in den 1980er Jahren auf die Unesco-Welterbeliste. Fünf Jahre dauerte eine neuerliche Restaurierung, bis der katholische Bischofsdom vor einem Jahr wieder für Gottesdienste und Besuche geöffnet werden konnte. Das Ergebnis wirkt so eindrucksvoll wie fast lutherisch karg – der Innenraum, dessen Mittelschiff glatte, schmucklose Pfeiler und Säulen in einer Anordnung begrenzen, den Kunsthistoriker eine „niedersächsische Reihe“ nennen, richtet die Blicke auf zwei gewaltige Kronleuchter über Mittelschiff und Altar.

Zoff lag ständig in der Luft

Ausgangs des Domes lenkt nichts von der tausendjährigen zweiflügeligen Bernwardstür aus Bronze ab, auf der Geschichten des Alten und Neuen Testaments gegeneinander gesetzt sind. Vor dem Eingang zur Krypta wacht mit überdimensionierter Krone die „Madonna mit dem Tintenfass“. Dazwischen stört allenfalls ein hellhölzern-neumodisches Duo aus zwei Beichtcontainern, die eher an die Boris Becker’schen Besenkammern erinnern als an Orte, in denen Absolution erteilt wird.

Stadt und Bistum Hildesheim, die von Ludwig dem Frommen gegründet wurden, feiern in diesem Jahr ihren 1200. Geburtstag. Der Titel des Gründungskaisers wirkt bis heute nach: Ungefähr alle zehn Minuten kann der Stadtspaziergänger vor einer Kirche oder Kapelle verharren und sich ausmalen, wie das Alltags- beziehungsweise Sonntagsleben der gottesfürchtigen Bürger, Bauern, Händler, Handwerker, Kleriker und Adelsleute im Hildesheimer Mittelalter gewesen sein mochte.

Hildesheim, die Metropole der fruchtbaren Lösslandschaft „Hildesheimer Börde“, war und ist wohlhabend. Auch deshalb lag – zwischen Kastengeist und Sozialneid – ständig Zoff in der Luft. Denn: Hochnäsig schauten die Wohlhabenden der Altstadt auf die umtriebigen Underdogs herab, die sich jenseits der Domfreiheit in der Neustadt breitmachten und ihnen die Geschäfte fintenreich vermasselten.

Die Abneigung eskalierte bis hin zu Feindseligkeiten, sodass es in Hildesheim quasi zu präberlinischen Verhältnissen kam: Eine Mauer wurde zwischen Alt- und Neustadt hochgezogen, wenn auch mit einem Durchlass, an dem streng kontrolliert wurde.

Nürnberg des Nordens

Unesco-Welterbe. Hildesheimer St.-Marien- Dom aus dem 9. Jahrhundert, von außen.
Unesco-Welterbe. Hildesheimer St.-Marien- Dom aus dem 9. Jahrhundert, von außen.

© Uli Schulte Döinghaus

Heute ist die historische Antipathie längst dahin, die knapp 100 000 Hildesheimer leben und arbeiten heute offensichtlich in Eintracht. Fast drei von vier Bewohnern jobben in der Dienstleistungswirtschaft, der Rest pendelt nach Braunschweig oder Hannover oder arbeitet in der heimischen Industrie – zum Beispiel bei Bosch Car Multimedia, das an die Stelle des einstmals ruhmreichen Autoradioherstellers Blaupunkt getreten ist.

Eine Art Arbeitsteilung zwischen Alt- und Neustadt ist allerdings immer noch zu ahnen: Die Gasthäuser der Altstadt sind eher gediegene Restaurants, die Wirtshäuser der Neustadt eher Kneipen. Rechts der Dom, links die historische Bischofsmühle, davor die Wehranlagen einer Kanustrecke – das ist die Aussicht, die Restaurantbesucher der „Insel“ im Flüsschen Innerste genießen können. Spezialität: Butterbarsch „Feurig“.

… und innen glänzt nicht nur der mächtige Kronleuchter.
… und innen glänzt nicht nur der mächtige Kronleuchter.

© Uli Schulte Döinghaus

Nach dem verheerenden Bombardement setzte sich die Bürgerschaft in der Altstadt für den Wiederaufbau der prachtvollen Handels- und Zünftehäuser rund um das historische Rathaus ein. „Ohne den hartnäckigen Einsatz der Bürger, die dafür in den 1980er Jahren Millionen von Spendengeldern aufgetrieben haben, wäre Hildesheims historische Mitte heute eine öde Betonlandschaft“, sagt Christel Tasiaux, die nach langen Jahren in Belgien und Luxemburg wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist.

"Auch diese Wand könnte schön sein"

Wer mit ihr am altstädtischen Markt, vor dem Knochenhauer-Amtshaus oder durch Kesslerstraße, Knollenstraße oder Brühl flaniert, dem leuchtet ein, warum Hildesheim einst das „Nürnberg des Nordens“ genannt wurde. Im Fachwerkviertel der Neustadt ist ein komplettes Ensemble teils erhalten geblieben, teils wurden Fachwerkhäuser restauriert und renoviert – vielfach geschmückt durch gelöcherte Schützenscheiben, die von vergangenem Ruhm als König oder Kronkönig erzählen. Vielleicht fasziniert uns all das Fachwerk, weil mit ihm eine ackerbürgerstolze Ordnung und Struktur sichtbar werden sollte, die zwar baulich Bestand hatte, aber – weil sich Balken nun mal biegen – nie so blieb wie einst gedacht.

Dem zeitgenössischen Hildesheim kann das nicht passieren; es ist aus Stahl, Glas, edlem Grauputz und Beton, gibt sich ein bisschen bauhäuslich, auf jeden Fall zweckmäßig, dekorabgeneigt, post-postmodern und minimalistisch. In den Weingärten, zwischen Kehrwiederwall und Kaiser-Friedrich-Straße haben sich auf diese Weise die kreativen Studiengänge der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (Hawk) etabliert und sich selbst eine strenge, puristische Zurückgenommenheit auferlegt. Prompt meutern Hawk-Studenten mit betont bunten Spruchbändern dagegen, dass sie ihre Seminar- und Vorlesungsräume nicht mehr mit Botschaften, Nachrichten und Parolen tapezieren dürfen.

Konsequenz: Wie als „Rache des unbekannten Dekorativen“ ist ein paar Schritte weiter das heruntergekommene Backsteingebäude des ehemaligen Spitals über und über mit Graffiti besprüht. Und irgendwo dazwischen hat ein Hildesheimer Denker aufgepinselt: „Auch diese Wand könnte schön sein“.

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