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Freie Bahn für freie Radler. Vor der historischen Kulisse des Prinzipalmarkts lustwandeln Münsteraner auch abends gern. Tagsüber wird es jedoch schon mal eng.

© Brünjes

Münster: Moinsen, Herr Thiel!

Den „Tatort“-Kommissar kennt jeder in Münster. Und Schauspieler Axel Prahl mag das Revier. Am Sonntag lief die 25. Folge des Krimis aus Westfalen.

Wie aus der Dienstpistole geschossen kommt Axel Prahl die hiesige, schon sprichwörtliche Wetterregel über die Lippen: „Entweder es regnet in Münster, oder die Glocken läuten. Fällt beides zusammen, ist Sonntag.“ Der Mann hat so seine Erfahrungen: Kaum war er beim Fundort einer Frauenleiche am innerstädtischen Ufer des Flüsschens Aa eingetroffen, musste der knurrige Kommissar im Jahre 2009 den Dreh zum Tatort „Hinkebein“ abbrechen.

Und immer neue Wolkenbrüche zwangen ihn dazu, einen halben Tag lang bis zur nächsten Klappe zu warten. Heute, beim Lokaltermin an vielen Schauplätzen des seit mehr als zehn Jahren auf dem Bildschirm präsenten und mittlerweile wohl populärsten ARD- Sonntagskrimis, hat Prahl mehr Glück. „Los, erst mal auf den Prinzipalmarkt“, sagt er. Dann schlendert er deutlich bedächtiger als der von ihm gespielte stets etwas kurzbeinig-hektische Thiel und steckt sich erst mal eine an.

„Münster hat ein bisschen was von Lübeck“, nuschelt der gebürtige Eutiner aus einer Rauchwolke hervor, deutet dabei auf die Treppengiebel der beigefarbenen Kaufmannshäuser. „Fühl’ mich sehr wohl in der Stadt seit dem ersten ,Tatort‘ 2002, aber leben könnt’ ich hier nicht – zu wenig Wasser“, sagt Prahl knapp und entschieden. Der Aa-See ist ihm „zu lütt“, Restaurants und Bars am wiederbelebten Binnenhafen beeindrucken den Ostholsteiner Küstenjung auch nicht so recht. Die Münsteraner dafür um so mehr: Prahl zeigt ein selbstgedrehtes Handyvideo: „Guck, Tausende bei unserem Dreh, trotzdem kannst du ’ne Stecknadel fallen hören, so still sind die Menschen aufm Prinzipalmarkt!“

Jackenkragen hoch, Hut tief in die Stirn – die Tarnung hält keine fünf Minuten

Münsters Kopfsteinpflasterboulevard ist ein wahrhaft historisches Pflaster. Im Rathaus wurde 1648 der erste Schritt zu den Friedensverträgen getan, die den Dreißigjährigen Krieg in Deutschland und zugleich den Unabhängigkeitskrieg der nahen Niederlande beendeten. Übrigens: 2006 erreichte der Prinzipalmarkt in der ZDF-Sendung „Lieblingsorte der Deutschen“ den vierten Platz.

Axel Prahl alias Kommissar Thiel
Axel Prahl alias Kommissar Thiel

© Brünjes

Heute ist der beidseitig durch gereihte Giebelhäuser – kein Giebel gleicht dem nächsten – geprägte Ortsmittelpunkt vor allem Schaufenster der alteingesessenen Kaufleute. Osthues, Zumnorde, Oeding-Erdel prangt goldfarben an den Fassaden der Arkaden: die ideale Lokalkoloritvorbeifahrkulisse im ARD-Krimi, wenn Assistentin Nadeshda dem Kommissar im Auto den aktuellen Fahndungsstand verklickert.

Heute gibt Axel Prahl hier nicht seinen Thiel, sondern eher einen Bonsai-Bogart: Jackenkragen hoch, Hut tief in die Stirn gezogen. Noch ein wenig zerknautscht morgens um neun, möchte der untersetzte Mann mit Günther-Netzer-Scheitel und Kugelbäuchlein nicht gleich erkannt werden. Seine Tarnung hält keine fünf Minuten. „Moinsen, Herr Thiel“, ruft ein Mann ihm zu. Aha, der vom St.-Pauli-Fan Thiel im Münster-„Tatort“ eingeführte, norddeutsche Gruß – mitten im Herzen Westfalens, wo die Menschen üblicherweise „Tach“ sagen oder „Wohlsein“.

Ein paar Meter weiter, an der Lamberti-Kirche, strahlen Prahls himmelblaue Augen nach oben, zu drei Käfigen am Turm: „Da drin möcht’ ich mal aufwachen nach durchzechter Nacht – natürlich nur im ,Tatort‘“, schiebt er mit schelmischem Grinsen hinterher. Das gefriert ihm jedoch in den Mundwinkeln, als er vom Zweck der Käfige hört: Fürstbischof Franz ließ darin die Leichname von drei radikalen Predigern verwesen. Sie hatten Vielweiberei und Straßentaufe per Wassereimer propagiert, im zweijährigen „Täuferreich Münster“. Ein Mittelalter- „Tatort“, Jahrgang 1536.

Tauben und Hunde gibt’s, aber partout keinen Dreck

Krimikulisse. In Münster ermittelt für das ZDF auch Antiquar/Privatdetektiv Wilsberg.
Krimikulisse. In Münster ermittelt für das ZDF auch Antiquar/Privatdetektiv Wilsberg.

© Brünjes

Vor dem wuchtigen St.-Paulus-Dom – vor 750 Jahren, am 30. September 1264, geweiht – mit seinem frisch aufgesattelten Kupferdach bummelt der 54-jährige Schauspieler gerne über den Wochenmarkt zwischen erdig-westfälischen Gemüsebauern und henna-haarigen Biowolleverkäuferinnen. Solche Altaussteiger gehören zu Münster wie Thiels kiffender „Vadder“ zum „Tatort“. Kein Wunder bei 50 000 Studenten. Doch prägend für die 300 000-Einwohnerstadt sind nicht die allein.

Auf der Suche nach passenden Etiketten landet man vielmehr immer wieder in der bürgerlichen Mitte: „Besenrein“ wirkt die Stadt. Tauben und Hunde gibt’s, aber partout keinen entsprechenden Dreck. Hier herrschen allem Anschein nach „geordnete Verhältnisse“. Sogar die Aa plätschert im betonierten Flussbett. Nicht ökologisch korrekt, aber ordentlich eben. Es soll jedoch nicht verschwiegen werden: In Münster wird an der kompletten Renaturierung der Aa gearbeitet. Richtig ordentlich, wie zu hören ist.

Das propere Städtchen bildet also alles in allem eine ideale TV-Kulisse, in der ein „Tatort“-Verbrechen jedes Mal für gehörig Aufruhr sorgt im – übrigens auch real existierenden – Milieu hornbebrillter Tweedjackenhonoratioren mit Einstecktuch und Schmiss. Das hat man nicht im Ersten, sondern im Zweiten Deutschen Fernsehen zuerst erkannt: Dort ermittelt Thiels ZDF-Kollege Wilsberg schon länger in seinem kleinen Buchladen – in der Realität das „Antiquariat Solder“, ein paar Schritte unterhalb des Domplatzes gelegen.

Das „Pinkulus“ – wie gemalt für Kommissar Thiel

Vor der Ladentür erklärt Dagmar Brandt im Rahmen ihrer Führung „Krimistadt Münster“ soeben, wie mit Privatdetektiv Wilsberg alles begann, und dass Professor Bernd Brinkmann, der langjährige, charismatische Leiter der münsterschen Rechtsmedizin, Pate stand für Thiels Partner, den „Tatort“-Pathologen Boerne, stets blasiert und besserwisserisch, gespielt von Prahls kongenialem Partner Jan Josef Liefers.

Westfälischer Unfriede. Jan Josef Liefers und Axel Prahl im „Tatort“
Westfälischer Unfriede. Jan Josef Liefers und Axel Prahl im „Tatort“

© imago, teutopress

Axel Prahl hat jetzt Durst und kennt nur ein Ziel – das „Pinkulus“ am Rosenplatz. Nein, nicht „Pinkus Müller“, die Altbierlegende unter Münsters Studentenlokalen, sondern die winzige Eckkneipe gegenüber – wie gemalt für Kommissar Thiel: St.-Pauli-Wimpel und Totenkopfschal hängen an der Wand als Tresendeko. Prahl fläzt sich hin zum munteren Pointenpingpong mit Vladi, dem Hamburger Wirt im westfälischen Exil, und lacht nach sieben weiteren Zigaretten so rasselnd wie Thiels „Tatort“-Staatsanwältin Wilhelmine Klemm.

Weiter geht’s auf dem Rundgang, vorbei an überdimensionalen Kirschen auf einer Säule, einem quietschbunten Kronleuchter im öffentlichen WC und durch ein rot-weiß gestreiftes Tor – drei von mehr als 60 öffentlichen Installationen, entstanden im Rahmen des seit 1977 alle zehn Jahre stattfindenden Festivals „Skulptur Projekte“. Künstler aus aller Welt werden dabei eingeladen, an Ort und Stelle zu arbeiten, damit sie auf die Stadt und ihre Umgebung in ihren Arbeiten eingehen können. Sie dürfen sich dabei Standorte im Stadtgebiet aussuchen, wo ihre Skulpturen über einen Zeitraum von mehreren Monaten von den Münsteranern ebenso wie von einem internationalen Publikum angeschaut werden können. Im Laufe der Jahre hat die Stadt Münster einige dieser Skulpturen erworben.

Bremsen, Hupen und wilde Verfolgungsjagd

Axel Prahl zeigt „seine“ Skulptur am Servatiiplatz – einen 3,50 Meter großen grauen Mann, in einer Litfaßsäule steckend. Geschaffen hat sie die streitbare Künstlerin Silke Wagner (Jahrgang 1968) gemeinsam mit Bernd Drücke, die dem Werk den Namen gaben „Münsters Geschichte von unten“.

Streit-Skulptur: Paul Wulf
Streit-Skulptur: Paul Wulf

© Elektroschreiber

Dargestellt wird Paul Wulf, ein 1938 von den Nazis zwangssterilisierter Münsteraner, der sich später im Widerstand engagierte und kleinere Sabotageakte verübte. „Nach der Errichtung 2007 sollte das Mahnmal eingemottet werden – angeblich aus Geldmangel“, erzählt Prahl. „Da hab’ ich was gespendet und auch Kollegen dazu animiert.“

Hier, an der die City umschließenden Grün-Promenade, zeigt die „lebenswerteste Stadt der Welt“ (UN-Preis 2004) unerwartet ihre leicht anarchische Seite: Quietschende Bremsen, Hupen und Klingeln signalisieren „Hoppla, hier komm-ich“-Vorfahrtabo. Aber nicht für Boernes Bugatti, sondern schwarmartig auftauchende Fahrräder. 500 000 soll es in Münster geben, gerade mal 3300 finden Platz in Deutschlands größtem Fahrradparkhaus, einem gläsernen Kuchenstück, das vorm Bahnhof aufragt.

Alle übrigen Zweiräder bilden, zumeist wild geparkt, auf Bürgersteigen einen Hindernisparcours für Fußgänger. Allerdings nicht im „Tatort“. Kommissar Thiel hat auf dem Rennrad stets freie Bahn und doch einen Beinahezusammenstoß in Erinnerung: „Mit Kuchen im Mund sollte man eben keine Verfolgungsjagd proben“, sagt Axel Prahl feixend.

Stefan Brünjes

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