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Das Fichtelgebirge ist nicht der Himalaya. Doch der Aufstieg zum 1051 Meter hohen Schneeberg ist keineswegs ohne.

© David Ebener/dpa

Oberfranken: Licht im Tal der Finsternis

Im Fichtelgebirge streifen Nichtsehende durch Feld und Flur. Das Besondere: Auch der Wanderführer ist blind, orientiert sich mit Stock und an Geräuschen.

Ein diesiger Morgen im Fichtelgebirge, in der Gegend des Luftkurorts Bischofsgrün. Der Schneeberg versteckt sich hinter dunklen Wolken. Doch da drüben am Abhang sind Menschen unterwegs. Ihre bunten Windjacken zeichnen sich durch die Nebelschwaden hindurch ab. Im Gänsemarsch bewegen sie sich vorwärts. Sehr langsam – fast wie in Zeitlupe. Einige haben einen Hund dabei. Andere strecken ihre Wanderstöcke seltsam nach vorne. Irgendetwas stimmt da nicht. Als die Gruppe näher kommt, erkenne ich: Das sind keine Wanderstöcke. Diese Wanderer sind blind. Das Verblüffendste: Auch der Bergführer, der vorangeht, tastet mit einem Blindenstock nach dem Weg.

Horst Zinnert, ein stämmiger, kleiner Mann von Anfang 40, ist in Bischofsgrün aufgewachsen. Als er 15 Jahre alt war, starben seine Sehzellen plötzlich ab. Warum, weiß niemand. „Ich dachte damals, das Leben sei zu Ende“, sagt Zinnert. Jetzt leitet er Bergtouren für Blinde. Kaum zu glauben. Denn die meisten Menschen erhalten 80 Prozent ihrer Eindrücke über das Sehen. Nur das restliche Fünftel entfällt auf Hören, Riechen und Tasten. Horst Zinnert aber nimmt weder die Nadelwälder, Blumenwiesen, Bäche und Felsen visuell wahr noch kann er sehen, ob er den nächsten Schritt auf den Feldweg setzt – oder in einen Abgrund. „Wer sich nicht auf die Augen verlassen kann“, sagt der Bergführer lakonisch, „lernt, seine übrigen Sinne besser zu nutzen.“

Das Fichtelgebirge ist nicht der Himalaja. Die imposantesten Gipfel in der Gegend von Bischofsgrün, Ochsenkopf und Schneeberg, sind gerade mal gut 1000 Meter hoch. Doch in der vergangenen Nacht hat es geschüttet, die Wege sind feucht und rutschig. Und nur einer in der Wandergruppe ist nicht blind: Rolf, ein Pensionär mit Ohrring und Dreitagebart, bildet die Nachhut und passt auf, dass niemand verloren geht. Auf den ersten Blindenwanderungen sei er noch nervös gewesen, erzählt er. Aber Horst habe die Sache im Griff. Noch nie sei einem der Teilnehmer etwas passiert. „Ein Blindenhund wäre allerdings mal beinahe verunglückt“, erinnert sich Rolf. Als sein Herrchen ihn für eine Weile frei herumtollen ließ, purzelte der junge Labrador in einen Bach und wurde von der Strömung mitgerissen. Ein Angler konnte ihn rausfischen.

Wie findet er bloß de Weg?

Horst Zinnert lädt mich ein, die Gruppe ein Stück zu begleiten. „Er verirrt sich nur ganz selten“, macht mir seine Frau Waltraud Mut. Zum wohl letzten Mal sei das vor Jahren passiert, auf einer ihrer ersten gemeinsamen Touren, erzählt die lebenslustige Frau mit der Prinz-Eisenherz-Frisur: Als sich Horst und Waltraud, damals frisch verliebt, küssten, verloren sie die Orientierung. „Seither halten wir uns eisern an folgende Regel“, sagt sie und grinst: „Auch beim Knutschen bleibt einer in der Wanderrichtung stehen.“

Abmarsch. Die blinden Waltraud und Horst Zinnert hält nichts auf.
Abmarsch. Die blinden Waltraud und Horst Zinnert hält nichts auf.

© K. Zeilmann/dpa

Horst gibt ein gemächliches Tempo vor. Von Zeit zu Zeit dreht er sich um und ruft seinen neun blinden Mitwanderern, die aus ganz Deutschland nach Oberfranken angereist sind, mit sanfter Stimme Anweisungen zu. „Rechts halten!“, oder „Hier vorne kommt eine Brücke!“ Wie findet er bloß den Weg? Und wie mag sich das anfühlen: Blindwandern?

Wer keinen Führhund zur Seite hat, bewegt die Spitze seines Blindenstocks in einem Halbkreis vor sich her, beobachte ich, und tippt zur Orientierung abwechselnd links und rechts an den Rand des Wanderwegs. Als ich später direkt hinter dem Bergführer gehe, traue ich mich, die Augen zu schließen und dem Geräusch seiner Schritte zu folgen. Erst jetzt fällt mir auch ein Rauschen auf, das aus dem Tal zu uns herauf dringt. Ob das der Weiße Main ist, der unweit von hier entspringen soll? „Die B 303“, sagt Horst und lacht. Manchmal höre sich diese Bundesstraße wie ein Flüsschen an. „Je nach Tageszeit klingt sie aber schon nach Autoverkehr.“ Für ihn sei das Geräusch ein Vorteil, die B 303 einer der wichtigsten Referenzpunkte zur Orientierung. Da stolpere ich über irgendetwas, verliere fast das Gleichgewicht – und reiße die Augen auf. „Ich dachte, du kannst sehen“, juxt der Bergführer. Er muss mein Straucheln gehört haben.

Urlaub ist für Blinde eine Herausforderung

Bald darauf reißt die Wolkendecke auf. Die ganze Gruppe bleibt stehen, und wir genießen die Sonnenstrahlen auf der Haut. Der steinige Lehmboden im Fichtelgebirge eigne sich nicht für intensive Landwirtschaft, erzählt Horst. Dafür wachsen auf den Wiesen etwa 100 verschiedene Bergkräuter. Kathrin, eine handfeste Berlinerin, beugt sich weit nach vorne und schnuppert an einer Pflanze mit lanzenförmigen Blättern. „Det riecht ja wie Elefantenkacke“, sagt sie erstaunt. Der süßlich-erdige Duft dieses Krauts weckt bei ihr Erinnerungen an einen Zirkusbesuch. Jeanette aus Leipzig schnuppert ebenfalls an der Pflanze. „Spitzwegerich“, sagt sie sofort. „Schmeckt besonders lecker in Kartoffelsuppe.“

In der Ferne erkenne ich die Kirchturmspitze von Bischofsgrün. In diesem Kurort mit etwa 2300 Einwohnern sind die Wanderer heute früh los marschiert. Der Wintertourismus machte das Dorf im frühen 20. Jahrhundert bekannt, bereits 1909 wurde der erste Skiclub gegründet. Doch bald übertrumpften spektakulärere Wintersportregionen das Fichtelgebirge. Doch jetzt erlebt Bischofsgrün wieder Aufbruchstimmung, nicht zuletzt dank seiner besonderen Blindenfreundlichkeit.

Urlaub ist für Blinde eine Herausforderung. Waltraud wurde neulich von einem Schaffner an der falschen Haltestelle aus dem Zug geschickt. Kein Mensch weit und breit. Schließlich musste sie mit dem Handy die Polizei verständigen und sich suchen lassen. Auf ihren Beschwerdebrief hin bekam sie drei Fan-T-Shirts mit der Aufschrift „Deutsche Bahn“ zugeschickt und eine CD mit Meditationsmusik mit dem Titel „Deutsche Bahn – einsteigen und entspannen“.

Oft beginnen die Hürden schon beim Buchen einer Unterkunft, erzählt sie. „Leider könnten wir für Ihre Sicherheit nicht garantieren“, laute die Standardablehnung vieler Hotels. Oder: „Sehr gerne. Aber selbstverständlich nur mit einem sehenden Partner.“ In Bischofsgrün hingegen bieten viele Hotels vom Bahnhof Bayreuth aus einen Shuttle-Service für Nichtsehende an. Speisekarten sind in Brailleschrift verfasst, und auf Spezial-Ortsplänen – von den Zinnerts mit erstellt – lässt sich der Verlauf der Wanderwege, Straßen und Bäche ertasten. Die wohl größte Attraktion sind jedoch die Bergtouren für Blinde und Sehbehinderte, die Horst Zinnert, Sohn eines Hoteliers am Ort, von Bischofsgrün aus anbietet.

Mit Blindenstock und Navi

Orientierungslos zum Ochsenkopf? Wohl kaum. Im Fichtelgebirge muss kein Blinder ohne „Leitwolf“ in die Natur ziehen.
Orientierungslos zum Ochsenkopf? Wohl kaum. Im Fichtelgebirge muss kein Blinder ohne „Leitwolf“ in die Natur ziehen.

© tz-fichtelgebirge

Immer steiler führt der Schotterweg bergab. Horst geht mit gebeugten Knien, wie ein Skifahrer auf einer Buckelpiste. Nach vielleicht 500 Metern bremst er plötzlich ab. Und als Rolf von ganz hinten bestätigt, dass die Gruppe vollzählig sei, biegt der Bergführer scharf nach rechts in einen Trampelpfad ein. Wie hat er die Abzweigung bloß gefunden?

Mit dem Blindenstock ertastet er markante Felsen oder Baumstämme am Wegesrand, beobachte ich. Horst orientiert sich aber auch am Plätschern der Quellflüsse, an Grasnarben und an unterschiedlichen Steigungen des Weges. Moosiger Waldboden gibt ihm ebenso Hinweise wie Asphalt oder felsiger Untergrund. Und zur Sicherheit hat er in ein Navigationssystem einige Fixpunkte eingespeichert. Nähern wir uns einer dieser Stellen, piepst eine Computerstimme „Gasthof“, „Skilift“ oder „Landstraße“.

Der Wegabschnitt, dem wir nun folgen, ist dem Dichter Jean Paul gewidmet. Vor 150 Jahren wurde er im Fichtelgebirge geboren. Auf Schildern sind Zitate aus seinen Werken zu lesen: „Meine Sänfte wurde abgeschnallet und ich mit geschlossenen Augen hineingeschafft, weil ich erst auf dem Schneeberg, der Kuppel des Fichtelgebirgs, mich umsehen will“, lautet eine Stelle aus dem Roman „Die unsichtbare Loge“. Der Held dieser Geschichte wollte offensichtlich durch den vorübergehenden Verzicht aufs Sehen seine Empfindungskraft stimulieren.

Totale Finsternis - ich verliere ständig die Spur

Waltraud tippt mir auf die Schulter. „Hier“, sagt sie und reicht mir ihren Blindenstock und ein Halstuch zum Verbinden der Augen. „Probier doch mal.“ Bald darauf sind nicht nur die gelben Glockenblumen und die Disteln mit karminroten Blüten, die links und rechts des Jean- Paul-Weges wachsen, für mich verschwunden. Totale Finsternis.

Kleiner Assistent. Ein Navigationsgerät speziell für Sehbehinderte
Kleiner Assistent. Ein Navigationsgerät speziell für Sehbehinderte

© K. Zeilmann/dpa

Wird sich meine Wahrnehmung durch die Augenbinde schärfen lassen? Ich bin da skeptisch. Es riecht nach Regen. Sonst kann ich beim besten Willen nichts erschnuppern. Ob sich Blinde im Gebirge auch mithilfe von Gerüchen zurechtfinden? Zur konkreten Orientierung seien Düfte in der Regel zu flüchtig, sagt Waltraud. „Ich schnuppere eher, um die Landschaft zu genießen.“ Über das Riechen entstehen innere Bilder, die sie glücklich machen. Und zumindest eine Gaststube unweit von Horsts Heimatdorf erkenne sie immer schon aus weiter Ferne. „Am Geruch des Esels hinterm Haus.“

Vorsichtig versuche ich, der Wegschneise zu folgen. Doch ständig verliere ich die Spur, torkele durch hohes Gras. Bald beschleicht mich der Verdacht, dass ich im Kreis gehe. Die Stimmen der Mitwanderer werden leiser. Zweimal bin ich bereits ausgerutscht, da höre ich Rolfs Stimme: „Weiter nach rechts! Vorsicht, da unten kommt der Fluss!!“ Kurz darauf spüre ich eine Hand auf der Schulter. Zielstrebig führt der Pensionär mich auf den rechten Weg zurück.

Viel später, ich habe die Augenbinde inzwischen abgelegt, erreichen wir einen Steinkreis, den eine Info-Tafel als „Ort der Kraft“ ausweist. Ein Esoteriker aus Kempten will hier im Mai 1996 „besondere Kräfte“ festgestellt haben. Die Stelle ganz links vorne erquicke bei Unterleibsproblemen, steht auf der Tafel, die in der Mitte bei „allen schweren Krankheiten“. Ich suche nach einer Stelle für „Orientierungsschwäche“. Doch Horst klappt das Deckglas seiner Armbanduhr auf und ertastet die Stellung der Zeiger: Zeit zum Aufbruch.

Jago, mein neuer Blindenhund

Erst seit etwa einer Stunde bin ich mit der Gruppe unterwegs. Kaum ein paar Kilometer haben wir zurückgelegt. Im Schneckentempo. Doch ich bin völlig geplättet von den Eindrücken und fühle mich erschöpft wie nach einer Tagestour. Bei meinem zweiten Versuch mit verbundenen Augen komme ich mit dem Blindenstock schon etwas besser zurecht. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass die Wege hier auf der Hochebene klarer abgegrenzt sind als zuvor im hügeligen Gelände. Ob ich mich mal von ihrem Hund führen lassen möchte?, fragt Kathrin aus Berlin.

Ich taste mich in ihre Richtung durch. Da: ein struppiges Fell. Das muss Jago sein, mein neuer Blindenhund „Wo die Ohren sind, ist vorne“, spottet Kathrin, der wohl meine Unsicherheit auffällt. Am Halsband gleite ich mit der rechten Hand bis zum Führbügel hinab und klammere mich daran fest. Der wichtigste Befehl lautet „Voran!“, erklärt Kathrin noch – schon rennt Jago los und reißt mich mit. Bald bin ich schweißgebadet. „Langsam!“, rufe ich. Doch der Hund versteht mich nicht.

Endlich gewöhne ich mich an Jagos Tempo. Ich haste nicht mehr stocksteif hinter ihm her, sondern versuche, seinen Impulsen harmonisch zu folgen – und kann es plötzlich genießen: Vor meinem inneren Auge ziehen Tannenhaine vorbei, Gipfelkreuze, Bergwiesen voller Elefantenmist-Kräuter, geheimnisvolle Steinkreise. Lange Zeit gehen wir über weichen Waldboden. Dann fühlt sich der Untergrund härter an. Vielleicht ist das Asphalt? Irgendwo lachen Kinder. Teller klappern, Stimmengewirr. Ganz plötzlich hält Jago an. Als ich die Augenbinde abnehme, stehen wir vor einem Gasthof: mitten in Bischofsgrün. Die Gruppe hat den Ausgangspunkt ihrer Rundwanderung erreicht. „Geht doch, wa?“, sagt Kathrin, als ich ihr den Blindenhund wieder übergebe.

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