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„GreenArt2 – Die Kunst, Grünkohl zu sehen“ zeigt das Landesmuseum Oldenburg noch bis zum 5. Januar. Hier „Norddeutsche Palmenhaine“ von Helmut Helmes.

© Carmen Jaspersen/dpa

Oldenburg: Bei Kohlschwestern und Pinkelbrüdern

Im Winter ist Oldenburg besonders attraktiv. Dann kann man boßeln, um die Wette stricken und Grünkohl essen.

Wenn es morgens spät hell und abends früh dunkel wird, erster Schnee kahle Bäume bedeckt und eisiger Wind über Wiesen und Felder peitscht, wird vielerorts der Winterschlaf ausgerufen. Nicht so im niedersächsischen Oldenburg. Dort taut der Norddeutsche bei Frost erst richtig auf. Er bepackt seinen Bollerwagen mit Boßelkugeln, Kraber (Boßelstiel) und Hochprozentigem und geht auf Kohltour. „Was dem Rheinländer der Karneval, sind für den Oldenburger das Boßeln und die Kohlfahrten“, witzelt Gästeführer Bernd Mundeloh.

„Nur gibt es während der Tour keine Kamelle, sondern am Ende ein zünftiges Grünkohlessen.“ Rund um Oldenburg im Weser-Ems-Gebiet werden jährlich rund 2000 Tonnen Grünkohl geerntet. Mannshoch kann die „Oldenburger Palme“ werden. Typische Sorten, die auf den Teller kommen, sind „Winnetou“ oder „Grüner Krauser“.

Wer mit dem Auto in der kalten Jahreszeit sonntags in der Gegend unterwegs ist, der mag sich wundern, wenn plötzlich Achtungsschilder am Straßenrand auftauchen, die vor boßelnden Menschen auf öffentlichen Straßen warnen. 40 000 Boßler, die meisten in Vereinen organisiert, gibt es zwischen Leer, Oldenburg und der Nordseeküste. „Als Erfinder der Kohlfahrten für das Bürgertum gilt der 1859 gegründete Oldenburger Turnerbund. Schon im späten 18. Jahrhundert fuhren Adlige und wohlhabende Familien mit Pferdeschlitten zum Grünkohlschmaus aufs Land“, weiß der Gästeführer. Statt zu boßeln, kann man auch andere amüsante Spielchen während einer Kohltour betreiben, die an lang zurückliegende Kindergeburtstage erinnern. Teebeutelweitwurf, Dosen-Golf, Sackhüpfen, Eierlauf oder Wettstricken sind einige Vorschläge.

Ein Pinnchen um den Hals

An diesem trüben Morgen treten zwei Mannschaften mit jeweils sechs Spielern ihre Boßeltour durch die Oldenburger Innenstadt an. Bevor die erste Kugel ins Rollen kommt, hängen sich alle ein Pinnchen um den Hals. Ein Schnapsglas also, gehalten von einer Kordel. Denn falls die Finger zu klamm werden sollten, muss hin und wieder von innen „eingeheizt“ werden. Auf Parkwegen zwischen den Wallanlagen, dem ehemaligen Peter-Friedrich-Ludwig-Hospital (heute Kulturzentrum) und vielen weiteren klassizistischen Häusern geht es mit dem Bollerwagen quer durch die knapp 160 000 Einwohner zählende Stadt.

Straßensport. Dabei sind 40 000 Boßler – natürlich – in Vereinen organisiert.
Straßensport. Dabei sind 40 000 Boßler – natürlich – in Vereinen organisiert.

© picture alliance

„Boßeln ist aus dem Klootschießen hervorgegangen“, erklärt Mundeloh: „Kloot bedeutet Kluten oder Klumpen. Über festgefrorene Weiden wurden einst Lehmklumpen geworfen.“ Klootschießen ist allerdings ein athletischer, anspruchsvoller Sport. Die bleigefüllte Holzkugel ist wesentlich kleiner als die Gummi-, Holz- oder Eisenkugel, die beim Boßeln zum Einsatz kommt, und es ist eine andere Wurftechnik erforderlich.

Eine Hobby-Boßelkugel besteht aus Gummi, hat einen Durchmesser von 10,5 Zentimetern und wiegt rund ein Kilo. Ziel des Spiels ist es, die Kugel mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Route zu befördern. Gewinner ist die Mannschaft, die die längste Strecke mit den wenigsten Würfen zurücklegt. Auch der Kraber – ein Besenstiel mit Fangkorb, um Kugeln aus Blumenbeeten, Gebüsch oder Gewässern herausfischen – kommt an diesem Morgen mehrmals zum Einsatz, denn um eine Kurve zu boßeln, stellt sich als nicht so einfach heraus. Eine Kugel verschwindet schließlich auf Nimmerwiedersehen im Flüsschen Haaren.

Was ist in der Pinkelwurst?

Recht fett. Fleischer Helge Ehlers-Monse kennt sich aus mit Pinkelwurst.
Recht fett. Fleischer Helge Ehlers-Monse kennt sich aus mit Pinkelwurst.

© Krappe

Nebenbei erfahren die Hobbyboßler auch die Superlative der drittgrößten Stadt Niedersachsens. So war die Haarenstraße mit ihren vielen kleinen Einzelhandelsgeschäften und Seitengassen 1967 die erste flächendeckende Fußgängerzone Deutschlands. Großherzog Peter Friedrich Ludwig gründete 1786 die erste Sparkasse der Welt, die heute noch als Landessparkasse zu Oldenburg existiert. Sieben Jahre später rief er das erste Lehrerseminar als Vorläufer der Pädagogischen Hochschule ins Leben. Die mit ihren fünf Türmen für Norddeutschland ungewöhnliche neogotische Hallenkirche St. Lamberti beherbergt in ihrem Innern eine klassizistische Rotunde. Auch Berge oder Hügel muss niemand beim Boßeln in Oldenburg überwinden. Die höchste Stelle der Innenstadt befindet sich gerade mal 7,30 Meter über dem Meeresspiegel.

Stolz waren die Oldenburger auf ihren Grünkohl schon immer. 1956 luden sie Bundespräsident Theodor Heuss zum „Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten“ ein. Doch er konnte leider nicht kommen. Also fuhren die Stadtväter nach Bonn und richteten dort das Essen aus. Seit 1998 wird in Berlin aufgetischt. Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur strömen einmal im Winter in die Niedersächsische Landesvertretung.

Auch hier wird wie bei jeder Kohltour ein „Kohlkönig“ gekürt. Dieser hat normalerweise die nächste Kohlfahrt zu organisieren. Der politische Kohlkönig, derzeit der amtierende Bundesumweltminister Peter Altmaier, muss im Laufe seiner Amtszeit mindestens einen Besuch in der Grünkohlhauptstadt absolvieren.

Irgendwann fängt das Fett an zu zu „pinkeln“

Die Oldenburger Grünkohlmahlzeit besteht aus dem ballaststoff-, mineralstoff- und vitaminreichen krausen Gemüse, Pinkel- und Kochmettwurst, Kasseler, Bauchspeck, Senf, Brat- und Salzkartoffeln. Stellt sich die Frage, was ist in der Pinkelwurst? Fleischer Helge Ehlers-Monse weiß die Antwort: „Die Wurst ist recht fett. Sie enthält Speck, Bauchfleisch, Hafergrütze, Zwiebeln und Gewürze im Schweinedarm. Das genaue Rezept ist natürlich geheim. Die Würste werden warm geräuchert. Irgendwann fängt das Fett an zu tropfen – zu ,pinkeln‘.“ Es gibt andere Namensdeutungen, die sind jedoch weniger appetitlich. 4000 Stück produziert Monse während der Saison pro Woche in der Metzgerei. „Man isst die Wurst entweder in Scheiben geschnitten oder kratzt sie aus dem Darm heraus.“

Als Alternative zum traditionellen Grünkohlessen oder einem deftigen Eintopf gibt es inzwischen auch weniger kalorienreiche Gerichte wie Grünkohlsalat mit Granatapfel und Roter Bete, Grünkohl-Frühlingsrolle oder -Lasagne, Lachsfilet auf Grünkohlgemüse. Konditormeister Christian Klinge stand der Sinn natürlich eher nach etwas Süßem. Also holte er den Mixer raus und vermischte Butter, Zucker, Sahne und weiße Schokolade mit dem grünen Kohl. Überzog die Masse mit Zartbitter- und Vollmilchschokolade und dekorierte die Grünkohlpraline mit rosa Pfeffer.

Da Oldenburg eine Universitätsstadt ist, können Kohlschwestern und Pinkelbrüder an der Grünkohl-Akademie ein Diplom erlangen, wenn sie über entsprechendes Wissen und Humor verfügen. Nicht nur Grünkohl und Pinkel, auch Bildung geht in der „Kohltourhauptstadt“ durch den Magen.

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