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Auch der ostseetypischen Bäderarchitektur – hier in Sassnitz – ist die Zeit nach der Wende gut bekommen.

© Franz Lerchenmüller

Rügen: Wandern zum Wandel

Dem Thema „25 Jahre Deutsche Einheit“ können sich Besucher auf Rügen jetzt zu Fuß nähern. Zahlreiche geführte Touren stehen zur Wahl.

„Besuchen Sie Prora, solange es noch als Prora zu erkennen ist“, sagt Klaus Boy. „Zumindest in Teilen.“ Dieser gigantische, fast fünf Kilometer lange, fünf Stockwerke hohe Beton-, Stahl- und Ziegelriegel also, den die Nazis von 1936 bis 1939 an den Oststrand der Insel Rügen klotzten, um 20 000 Mitglieder der nationalsozialistischen Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF) gleichzeitig mit Frischluft, neuem Schwung und ideologischer Auffrischung zu beglücken.

Beeilen sollte man sich mit einem Besuch, denn Prora ist heute ein Ort im Wandel. Die sechs noch vorhandenen Blöcke von je 500 Meter Länge sind verkauft, Baugerüste verdecken Fassaden, Schranken sperren den Zugang. Vor Block 1 ist die Straße aufgerissen. Presslufthämmer dröhnen, es wird gebohrt, gebaggert und verputzt. Neue Leitungen werden verlegt, als Vorarbeiten für die Eigentumswohnungen, von denen viele schon verkauft sind.

In den Apartments von Block 4 sind bereits Mieter eingezogen, in der Jugendherberge in Block 5 feiern seit 2011 Schulgruppen, und Jugendliche fluchen am Strand, dass zwischen hier und dem glitzernden Binz drei, vier Kilometer Fußweg liegen. In Block 3 stampfen am Wochenende die Beats in der „Disco Miami“, das Restaurant „Fischerklause“ serviert Dorsch gedünstet oder gebraten.

Verschlissene Bilder von Kunststudenten hängen an den Fassaden, Überreste der einst geplanten „längsten Galerie der Welt“. Und das Erlebnismuseum zeigt Dokumentarfilme und ein 18 Meter langes Modell, an dem der Besucher die ganzen Ausmaße der Anlage erst so richtig erkennt.

Windige Investoren, bombige Geschäfte und schnöde Wirklichkeit

Über die spätere Zeit, als die Anlage von der Nationalen Volksarmee als Kaserne genutzt wurde, und zwischen 8000 und 10 000 Soldaten und Offiziere hier Dienst taten, über den Drill und auch die Schikanen damals,informieren zwei Dokumentationszentren. Insbesondere auch über die hier ab 1982 untergebrachten „Bausoldaten“, jene jungen Männer, die den Dienst an der Waffe in der Nationalen Volksarmee (NVA) ablehnten und stattdessen als „Spatensoldaten“ unter der Knute der Streitkräfte 18 Monate „im Interesse der Deutschen Demokratischen Republik“ malochen mussten.

All das zeigt und erklärt Klaus Boy während seiner Führung. Er spart nicht aus, wie er während seiner Zeit als Leiter des Kulturhauses der NVA selbst Strandpartys und Konzerte organisierte oder in der Projektgruppe mitarbeitete, die nach der Wende neue Ideen für die Nutzung entwickelte – vom gläsernen Penthouse bis zum Planetarium auf dem Dach war die Rede. So entfaltet sich nach und nach eine teils dramatische, teils lächerliche Geschichte von windigen Investoren, bombigen Geschäften, träumerischen Idealisten und unsanften Bauchlandungen in der schnöden Wirklichkeit.

Der geführte Rundgang ist eines von vielen Angeboten des „3. Rügener Wanderfrühlings“, der dieses Jahr unter dem Thema „25 Jahre Deutsche Einheit“ steht. So kann der Besucher in Göhren oder Sassnitz verfolgen, wie die zurückliegenden 25 Jahre die Orte verändert haben, oder er erforscht in Putbus die „Besondere Symbolik der Deutschen Einheit“.

Die Fischer müssten nach der Wende rasch umdenken

Im Mönchgut zeigt Gästeführerin Kerstin Besch beim Spaziergang von Middelhagen nach Lobbe, wie sich das Leben der Bauern und Fischer gewandelt hat. Beschäftigte die LPG Sellin bis 1989 115 Mitarbeiter, die sich um 1250 Schweine, 550 Rinder und bis zu 4000 Schafe kümmerten, so sind heute in der GmbH, die daraus hervorging, gerade mal zehn Menschen tätig. 1100 Mutterschafe und 200 Mutterkühe stehen auf den Feldern und im Stall.

In Lobbe ducken sich zwei baufällige Schuppen hinter Dünen. Hier traf sich im Herbst 1990 die Nachwuchspolitikerin Angela Merkel mit lokalen Fischern und hörte sich deren Nöte an. Das Foto, ein Werk im Stile alter niederländischer Meister, ziert viele ihrer Biografien. Inzwischen sind die verbliebenen Fischer im Mönchgut an einer Hand abzuzählen, nur wer rechtzeitig dazu überging, den eigenen Imbiss oder ein Restaurant zu betreiben, konnte von dem Beruf noch leben.

Wer sich von dem eher gemütlichen Spaziergang über den Deich nicht so richtig ausgelastet fühlt, zieht auf eigene Faust weiter in die Zickerschen Berge auf der Halbinsel Mönchgut. Die sanft gerundeten, von Trockenrasen bedeckten Hügel, über die ein Netz von Wegen verläuft, machen das Wandern zum Vergnügen. Etwas abenteuerlicher ist es, am Fuße der Steilküste über Geröll und Steinblöcke zu klettern und am Meer entlang von Groß Zicker nach Gager zu gelangen.

Noch einmal zurück an die Ostküste

Kundig unterwegs, ob wie hier in Prora oder in der weißen Stadt Binz: Klaus Boy
Kundig unterwegs, ob wie hier in Prora oder in der weißen Stadt Binz: Klaus Boy

© Franz Lerchenmüller

Auf der Insel Ummanz erzählt Ranger Roland Bich, was sich in 25 Jahren Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft getan hat. Während er seine Besucher zwischen weiten Rapsfeldern hinaus zum Inselchen Urkevitz führt, erklärt er, wie die Röhrichtfelder als Filter dienen, um Nährstoffe herauszuziehen, die sonst über das abgepumpte Wasser in die flachen Bodden gelangten. Die riesigen Ställe aus DDR-Zeiten wurden abgeschafft. Anders als vor 25 Jahren düngen die Bauern heute gezielter, „die Bodden schaffen es gerade noch, sich zu regenerieren“.

Lerchen jubilieren, ein paar Kraniche ziehen am Himmel, Kiebitze flattern hoch hinaus. In den Salzwiesen, erläutert der auskunftsfreudige Mittfünfziger, wenden Salzbinse, Salzmiere und Strandmelde ganz unterschiedliche Strategien an, um aufgenommenes Salz auszuscheiden. Er erzählt von den durchziehenden Gänseschwärmen, deren Landung von Bauern ungern gesehen wird, und von den Wildschweinen, deren Bestand erheblich zugenommen hat, vor allem dank der nahrhaften Maisfelder, aus denen die Biogasanlagen bestückt werden.

Dann geht es noch einmal zurück an die Ostküste. Auch mit der Geschichte des Seebades Binz hat sich Klaus Boy intensiv beschäftigt. Es ist gar nicht so einfach, sich angesichts der strahlend weißen Fassaden das Bild der Stadt von vor 25 Jahren vorzustellen. „Verzierungen und Ornamente an Dächern und Balkonen gab es auch damals. Aber sie waren aus Kiefernholz, die meisten arg verwittert und heruntergekommen, denn Farbe hatte fast niemand.“

Nach und nach erhielt Binz sein heutiges Gesicht

Die zehn riesigen Bettenhäuser und drei „Fresswürfel“ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes prägten das Bild. Zu jeder der Villen, zu jedem Hotel hat Boy eine Geschichte parat: In der heutigen Jugendherberge erholten sich Kinder der Arbeiter der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut. Wo sich der Brunnen und die steinernen Löwen der „Villa Salve“ erheben, tobten damals die Schützlinge des Kindergartens „Käthe Niederkirchner“ durch einen Garten.

1953 waren die meisten Eigentümer von Ferienanlagen im Rahmen der „Aktion Rose“ enteignet worden. Viele gingen anschließend in den Westen und erhielten nach der Wende sehr schnell ihre Immobilien zurück. Die meisten verkauften an Investoren. Geld floss, es wurde restauriert, geklüngelt, spekuliert und gebaut, und nach und nach erhielt Binz sein heutiges alt-neues Gesicht, geprägt von den weißen Villen mit ihren feinziselierten Gittern und Rundbogenfenstern, den schlanken Säulen und luftigen Balkonen, den Erkern und Türmchen und allerlei verspieltem Zierrat, den die einen als kitschig, die anderen als stimmig empfinden. In weniger als 25 Jahren ist die Stadt am Strand wiederauferstanden, sagt Klaus Boy – und alle, alle wollen sie heute dorthin.

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